Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0152
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 49-50 137

darüber hinaus den Kontemplativen Achtung zuteil wurde, versucht er aus ei-
nem abergläubischen Respekt vor den ihnen zugetrauten „Mitteln der Macht"
zu begründen. Wie auch sonst immer wieder geht N. nicht auf die historisch
greifbaren und aus der Überlieferung klar erkennbaren Formen und Strukturen
des kontemplativen Lebens ein, sondern imaginiert ein „ältestes Ge-
schlecht contemplativer Naturen" (50, 10 f.), dem er eine schlechte
innere Verfassung unterstellt. Während er in der Geburt der Tragödie noch ei-
nen archaisierenden Kult des „Ursprungs" treibt und alle ursprünglichen Zu-
stände samt dem „Mythus" verherrlicht, steuert er hier, zugleich generalisie-
rend, in die Gegenrichtung: „Hier, wie immer, muss es heissen: pudenda ori-
go!" (50, 17 f.; zur Herkunft dieser Formel vgl. NK M 102) - „schändlicher
Ursprung". Dies widerspricht allerdings der in der Anfangspartie formulierten
These, die vita contemplativa sei ein dekadentes spätzeitliches Phänomen.
43
50, 20 f. Wie viele Kräfte jetzt im Denker zusammenkommen
müssen.] Wie schon in den beiden vorausgehenden Texten geht N. explizit
auf die vita contemplativa ein (51, 16), aber erst hier lässt er erkennen, warum
er sich für diese Lebensform interessiert: Er sieht sich selbst als „Denker" (50,
20; 51, 9) im Bann der vita contemplativa. Dem von ihm immer von Neuem
angewandten genealogisierenden Schema entsprechend reflektiert er den his-
torischen Wandel, den er im Verhältnis zwischen den „Denkern" früherer Zei-
ten und den Denkern einer spätzeitlichen Gegenwart diagnostiziert. Deshalb
liegt auf dem „jetzt" in der nach den Kräften des Denkers fragenden Titelfor-
mulierung besonderer Nachdruck. Die Antwort gibt N. mit der umfangreichen
Aufzählung solcher „Kräfte" in 51, 9-15. Es handelt sich um eine Diagnose zu-
nehmender und in der Gegenwart zum Maximum gesteigerter Komplexität. Sie
ist „jetzt" gefordert, während Denker älterer Zeiten einfachere Denkformen hat-
ten und sich noch mehr mit einzelnen Erkenntnissen und Denkoperationen
begnügten.
Von dem in der Gegenwart erreichten Stadium aus nimmt N. ältere Denk-
formen, insbesondere diejenigen Platons, ins Visier. Entsprechend seiner
schon in der Aphorismen-Sammlung Menschliches, Allzumenschliches begin-
nenden und bis ins Spätwerk immer entschiedeneren Wendung gegen Idealis-
mus und Spiritualismus konzentriert er sich hier auf Platon als Repräsentanten
des idealistischen Denkens, dessen Grundmuster er charakterisiert: die „Er-
hebung" (50, 23) vom Sinnlichen zum Geistigen, vom konkret Erfahrbaren
zum „Abstracten" (50, 22), sodann die damit verbundene Abwertung des Da-
seins in der irdischen Welt zugunsten einer „höheren Welt" (50, 27). Platon
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften