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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0153
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138 Morgenröthe

hatte derartige Denkbilder vor allem im Symposion und in der Politeia entwi-
ckelt. Doch unterlässt es N., die von Platon durchaus von der sinnlichen Erfah-
rung selbst ausgehende Steigerungsdynamik - im Symposion diejenige des
Eros - zu erwähnen, und er geht auch nicht auf die Vermittlungsstruktur dia-
lektischen Denkens bei Platon ein.
N. spricht von „Plato's Bewunderung der Dialektik" (51, 1), um indirekt auf
dessen weitgehende Gleichsetzung der Dialektik mit dem generellen methodi-
schen Verfahren des Philosophierens hinzuweisen. Platon hatte dieses dialekti-
sche Verfahren als die dialogische Kunst der Beweisführung durch das Aus-
spielen aller Gründe und Gegengründe im Sinne einer allseitigen Erwägung
vorgeführt. N. glaubt darin nur einen substanzlosen geistigen Spieltrieb zu er-
kennen: „Nicht der Inhalt dieser Spiele der Geistigkeit, sie selber sind ,das Hö-
here' in den Vorzeiten der Wissenschaft gewesen" (50, 31 f.). Schon in der Tra-
gödienschrift hatte sich N. im Hinblick auf Sokrates - und damit letztlich auch
auf Platon - mit der Dialektik auseinandergesetzt, allerdings noch ganz im
Banne von Schopenhauers pessimistischer Philosophie. Als deren „optimisti-
sches", weil vom Glauben an die Erkenntnis getragenes Gegenteil greift er Dia-
lektik und Logik an (vgl. KSA 1, 101, 5-7 und den ausführlichen Kommentar).
Indirekt attackiert er damit Schopenhauers Erzfeind Hegel, der in seiner Philo-
sophie gerade logische und dialektische Denkstrukturen favorisiert, da die
Welt selbst logisch aufgebaut sei.
Im vorliegenden Text gibt es ebenfalls einen Hintergrund - vor ihm ist N.s
Urteil über Platons idealistische Philosophie zu sehen: In der Morgenröthe wie
in späteren Schriften setzt sich N. vorrangig mit dem Christentum und den
von diesem etablierten moralischen Wertungen auseinander, die sich zu den
moralischen (Vor-)Urteilen „gut" und „böse" verdichtet haben. Mehrere Wen-
dungen sind nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. N. versucht, die idealis-
tisch-platonische Vorstellung einer „höheren Welt" „aus der tiefen Verach-
tung der sinnlich tastbaren verführerischen und bösen Welt heraus" zu be-
gründen (50, 27-29), obwohl weder die „tiefe Verachtung der Welt" noch die
Anschauung, sie sei böse, dem Denken Platons (vgl. etwa dessen Timaios) ge-
recht wird, vielmehr auf das Christentum zielt, das die „Verachtung der Welt"
propagierte, den „contemptus mundi", und die Welt spezifisch moralisch als
„böse", weil der Sünde verfallen wertete. Auch dass N. von dem „guten ent-
sinnlichten Menschen" spricht, lässt sich nicht auf Platons Werke zurückfüh-
ren, denn trotz des programmatischen Aufstiegs vom Irdischen zum Reich der
Ideen erstrebt Platon weder eine Entsinnlichung noch versieht er den vermeint-
lich entsinnlichten Menschen mit dem moralischen Etikett „gut". N. meint mit
den moralisch polarisierenden Urteilen, die er Platon zuschreibt, das Christen-
tum.
 
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