Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0156
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 53 141

fern?" (137, 27 f.) Doch geht es in diesem Text nur zunächst um die Förderung
der „Erkenntniss" wie in Μ 45, dann aber und eigentlich um das „Gefühl der
menschlichen Macht" (138, 18). Vgl. hierzu NK Μ 146.

46
53, 6 Zweifel am Zweifel.] Die alsbald als angebliches Zitat aus Montai-
gnes Essais angeführte Wendung „Welch gutes Kopfkissen ist der Zweifel für
einen wohlgebauten Kopf!" entspricht nicht Montaignes Aussage. Montaigne
handelt nicht vom Zweifel, sondern von der Unwissenheit und dem Fehlen von
Neugier, woraus sich ein bequemes Kopfkissen ergebe: „Oh! Que c'est un doulx
et mol chevet et sain que l'ignorance et l'incuriosite ä reposer une teste bien
faicte" (Montaigne 1864, III, 8. Abschnitt, „Oh! welch gelindes und weiches
und wohltuendes Kissen ist die Unwissenheit und das Fehlen von Neugier, um
einen guten Kopf zur Ruhe zu bringen"). N. besaß eine französische Ausgabe
der Essais (Montaigne 1864) sowie eine deutsche Übersetzung (Montaigne
1753-1754). Bei Pascal heißt es - mit einem direkten Montaigne-Zitat -, „daß
Unwissenheit und Unbekümmertheit zwei süße Ruhekissen seien für einen gut
organisierten Kopf" (Pascal 1865, I. Teil, 316).

47
53,12 Die Worte liegen uns im Wege!] N. stellte öfter fest, dass die Spra-
che mit ihren schon festgelegten Worten, ihren konventionalisierten Begriffen
und Metaphern - auf letztere geht besonders der nachgelassene Text Ueber
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ein - unser Denken in hohem
Maße bestimmt. Für eine neue „Erkenntniss" (53, 17) kann daher das sprach-
lich schon Bestehende zum Hindernis werden. Die im ersten Satz formulierte
Annahme, dass „die Uralten" überall „ein Wort hinstellten", soll den im Fol-
genden statuierten Hindernischarakter sprachlicher Fixierungen zum Aus-
druck bringen, lässt aber außer Acht, dass sprachliche Formen nicht einfach
in ,uralter' Zeit „hingestellt" wurden, sondern in einem sich über Jahrhunderte
erstreckenden und immer noch andauernden sprachgeschichtlichen Prozess
entstanden, sich fortbildeten, oft auch wandelten und durchaus auch Neues
aufnahmen. Mit den modernen Normierungsmaßnahmen für eine verbindliche
Hochsprache ist die Wandlungsfähigkeit in den Grundstrukturen geringer ge-
worden. N. ist an der Kritik fester Vorgaben insofern interessiert, als er die
„moralischen Vorurtheile" angreift, die durch Gewohnheit zustandegekommen
sind, Geltung erlangt und auch die von ihm freidenkerisch bekämpften religiö-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften