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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0155
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140 Morgenröthe

weil zur Tragödie das Pathos gehört, das er schon in der Geburt der Tragödie
aus dem Geiste der Musik mit dem Ideal des Erhabenen ästhetisiert. Mehrmals
exponiert er schon im ersten Satz von Μ 45 dieses pathosgeladene Ideal des
Tragisch-Erhabenen: „Von allen Mitteln der Erhebung [!] sind es die Menschen-
opfer gewesen, welche zu allen Zeiten den Menschen am meisten erhoben [!]
und gehoben [!] haben" (52, 15-17). Geradezu zu einem Glaubensbekenntnis
macht N. diesen Drang zum Erhabenen in M 429 mit den Worten: „wir glauben
aufrichtig, dass die gesammte Menschheit unter dem Drange und Leiden die-
ser Leidenschaft [zur opferbereiten Erkenntnis] sich erhabener [!] und getrös-
teter glauben müsste als bisher" (264, 29-31). In M 435 greift er nochmals die
Wunschvorstellung des tragisch-erhabenen Untergangs auf, nunmehr ohne die
Fixierung auf die „Leidenschaft der Erkenntniss". Er ruft aus: „Und wollt ihr
durchaus zu Grunde gehen, so thut es lieber auf einmal und plötzlich: dann
bleiben vielleicht von euch erhabene Trümmer übrig! Und nicht, wie jetzt
zu befürchten steht, Maulwurfshügel!" (267, 20-23)
Diese wiederholte Hinwendung zum Tragisch-Erhabenen, das sich im „Op-
fer" vollendet, verrät eine markante Kontinuität im Rückblick auf die Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Dort erhält das „Erhabene" von Anfang
an eine Leitfunktion (vgl. den Überblickskommentar zu GT in NK 1/1, S. 60-
62). Zugleich aber, und ebenfalls in der Morgenröthe, rückt N. von der Idealisie-
rung des Erhabenen kritisch-aufklärerisch ab, in einer (Selbst-)Korrektur ge-
genüber seiner Tragödienschrift. In M 33 konstatiert er: „Der Mensch [...] spinnt
alle seine höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes,
der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt an [...] Und noch
jetzt sehen wir die Folge: wo das Gefühl eines Menschen sich erhebt, da ist
irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel". Noch später spricht er im Hinblick
auf Wagner von „Ausschweifungen des Erhabenen" (NL 1885, 37[15], KSA 11,
590), und im Fall Wagner rechnet er mit Wagners und seiner eigenen frühen
Vorliebe für das „Erhabene" sarkastisch ab (KSA 6, 24, 3-17). Gerade in M 45
und in M 429 aber bricht die alte Orientierung am Ideal-Erhabenen in anderer
Form wieder durch. Hinzukommt noch M 146, wo sich N. wiederum das „Op-
fer" und die „Aufopferung" und zwar die Aufopferung nicht nur des eigenen
Daseins, sondern vor allem des „Nächsten", des „Anderen" vorstellt, und wie-
der um der prätendierten, aber nicht definierten „Erkenntniss" willen: „höher
und freier scheint es mir gedacht, auch über diese nächsten Folgen für den
Anderen hinwegzusehen und enferntere Zwecke unter Umständen auch
durch das Leid des Anderen zu fördern, - zum Beispiel die Erkenntniss
zu fördern, auch trotz der Einsicht, dass unsere Freigeisterei zunächst und un-
mittelbar die Anderen in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird" (137,
16-22). Und er fragt: „was würde uns verbieten, den Nächsten mit aufzuop-
 
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