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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0161
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146 Morgenröthe

kritischen Auseinandersetzung mit der christlichen Askese, die N. als eine
Form der Selbstvergewaltigung interpretiert.

57
59, 2 Andere Furcht, andere Sicherheit.] Eine auch in den von N. he-
rangezogenen Schriften seiner Zeit und schon früher verbreitete Kritik am
Christentum besagt, dass die christlichen Jenseitsvorstellungen mit ihrer An-
drohung von Höllenstrafen und mit der Erregung von Sünden-Angst „Furcht"
zur Basis der Religion gemacht haben. Gleich in der folgenden Μ 58 ist von der
„Furcht vor Gott" die Rede (59, 26), die durch den Begriff der „Gottesfurcht"
sowie die Vorstellung vom „Gottesgericht" und von dem am Jüngsten Tag ge-
sprochenen „Gottesurteil" wesentlich mitbestimmt ist. Doch gab es schon in
vorchristlicher Zeit, sowohl im Alten Testament wie in der nichtchristlichen
Antike, ähnliche furchterregende religiöse Vorstellungen. In der antiken Litera-
tur, die N. kannte und in der Morgenröthe miteinbezieht, wollten Epikur und
in seinem Gefolge Lukrez mit seinem Lehrgedicht De rerum natura (,Von der
Natur der Dinge') die Menschen von Dämonen-Furcht befreien, um sie seelisch
zu beruhigen und zu befreien. Besonders Lukrez ist radikal religionskritisch
und deshalb beriefen sich die Freidenker gern auf ihn, zugleich auf Epikur.
Vgl. Μ 5 und NK hierzu sowie M 72.

58
59, 17 Das Christenthum und die Affecte.] Mit der „Vernunft der alten
Weisen", die „den Menschen die Affecte widerrathen" haben (59, 19 f.), spielt
N. vor allem auf Platon und die Stoiker an. Platon hatte die Bändigung der
Affekte durch die Vernunft als Voraussetzung eines tugendhaften Lebens dar-
gestellt; für die Stoiker ist der Sieg über die Affekte ein zentrales Anliegen, weil
nur so die stoische Gemütsruhe (άταραξία, tranquillitas animi) zu erlangen sei.
Dass das Christentum „die Vernünftigkeit" verurteilt, lässt sich schon auf man-
che Aussagen der Bibel zurückführen, gilt aber nicht generell, sondern vor al-
lem, insofern damit Selbstüberhebung und der Anspruch auf menschliche Ver-
standesautonomie verbunden sind. Der 1. Korintherbrief des Apostels Paulus,
der ein hellenisierter Diaspora-Jude war, wendet sich - in N.s Worten - gegen
„die Vernunft der alten Weisen" und überhaupt gegen die griechische Philoso-
phie, indem er kritisiert, dass „die Griechen nach Weisheit fragen" (1. Kor. 1,
22). Dem geht die markanteste Absage an die menschliche Vernunftautonomie
voraus: „Denn es steht geschrieben: ,Ich will zunichte machen die Weisheit
 
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