Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 59 147
der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen'. / Wo sind
die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weltweisen [d. h.: die
Philosophen]? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?"
(1. Kor. 1, 19-20) Die Deutung der „Liebe zu Gott, Furcht vor Gott, als fanati-
schen Glauben an Gott, als blindestes Hoffen auf Gott" (59, 26-28) im
Sinne von Affekten ist problematisch. Glaube, Liebe und Hoffnung sind nach
christlichem Selbstverständnis keine Affekte, sondern Grundhaltungen und
Kardinaltugenden, wie sie wiederum der 1. Korintherbrief formuliert: „Nun
aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte
unter ihnen" (1. Kor., 13, 13). N. erweitert die Trias „Glaube, Hoffnung, Liebe"
um die „Furcht vor Gott" - trotz 1. Joh. 4, 18: „Furcht ist nicht in der Liebe"
und trotz Römer 8, 15: „Ihr habt nicht empfangen den Geist der Sklaverei wie-
derum zur Furcht" (ού γάρ έλάβετε πνεύμα δουλείας πάλιν είς φόβον). Von
ganz anderem Zuschnitt sind die antiken Kardinaltugenden, die Platon maßge-
bend in seiner Politeia formuliert: Klugheit (phronesis, prudentia), Besonnen-
heit (sophrosyne, temperantia), Tapferkeit (andreia, fortitudo) und Gerechtig-
keit (dikaiosyne, iustitia). Vgl. hierzu NK Μ 26.
59
59, 30 Irrthum als Labsal.] Vgl. hierzu NK Μ 55. Die Aussage, dass „einige
Philosophen sich der mühseligen und langwierigen Dialektik und der Samm-
lung streng geprüfter Thatsachen entschlagen zu können wähnten sowie auf
einen ,königlichen Weg zur Wahrheit' verwiesen" (60, 3-6), zielt wie in Μ 544
(315, 16-21) - und noch entschiedener - auf Philosophen, welche sich auf Intu-
ition und „intellektuale Anschauung" beriefen: auf eine Form unmittelbarer
Erkenntnis (damit ist der „kürzere Weg" gemeint) im Gegensatz zur Dialektik
als der Form „langwierig" vermittelter Erkenntnis. Während die Dialektik als
philosophische Methode auf Platon zurückgeht, bringt N. mit der „Sammlung
streng geprüfter Thatsachen" eine auf positivistischer Grundlage entwickelte,
induktiv verfahrende und sich auf Empirie stützende philosophische Moderne
ins Spiel. Sie berief sich in seiner Zeit mit Vorliebe auf die von ihm genannten
„Thatsachen". Hierzu die Nachweise aus einem der charakteristischen und re-
präsentativen Werke seiner Zeit: aus Büchners Kraft und Stoff, 14. Aufl. 1876.
Zu den sich auf den „kürzeren Weg" der Intuition berufenden Philosophen
gehört für N. besonders Schopenhauer. Zu ihm hatte er sich noch in der Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik vorbehaltlos bekannt. Schon im ersten
Satz seiner Schrift stimmte N. gerade Schopenhauers Begründung der Philoso-
phie auf intuitive und insofern unmittelbare Einsicht zu. „Wir werden viel für
die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben", schrieb N., „wenn wir nicht
der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen'. / Wo sind
die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weltweisen [d. h.: die
Philosophen]? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?"
(1. Kor. 1, 19-20) Die Deutung der „Liebe zu Gott, Furcht vor Gott, als fanati-
schen Glauben an Gott, als blindestes Hoffen auf Gott" (59, 26-28) im
Sinne von Affekten ist problematisch. Glaube, Liebe und Hoffnung sind nach
christlichem Selbstverständnis keine Affekte, sondern Grundhaltungen und
Kardinaltugenden, wie sie wiederum der 1. Korintherbrief formuliert: „Nun
aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte
unter ihnen" (1. Kor., 13, 13). N. erweitert die Trias „Glaube, Hoffnung, Liebe"
um die „Furcht vor Gott" - trotz 1. Joh. 4, 18: „Furcht ist nicht in der Liebe"
und trotz Römer 8, 15: „Ihr habt nicht empfangen den Geist der Sklaverei wie-
derum zur Furcht" (ού γάρ έλάβετε πνεύμα δουλείας πάλιν είς φόβον). Von
ganz anderem Zuschnitt sind die antiken Kardinaltugenden, die Platon maßge-
bend in seiner Politeia formuliert: Klugheit (phronesis, prudentia), Besonnen-
heit (sophrosyne, temperantia), Tapferkeit (andreia, fortitudo) und Gerechtig-
keit (dikaiosyne, iustitia). Vgl. hierzu NK Μ 26.
59
59, 30 Irrthum als Labsal.] Vgl. hierzu NK Μ 55. Die Aussage, dass „einige
Philosophen sich der mühseligen und langwierigen Dialektik und der Samm-
lung streng geprüfter Thatsachen entschlagen zu können wähnten sowie auf
einen ,königlichen Weg zur Wahrheit' verwiesen" (60, 3-6), zielt wie in Μ 544
(315, 16-21) - und noch entschiedener - auf Philosophen, welche sich auf Intu-
ition und „intellektuale Anschauung" beriefen: auf eine Form unmittelbarer
Erkenntnis (damit ist der „kürzere Weg" gemeint) im Gegensatz zur Dialektik
als der Form „langwierig" vermittelter Erkenntnis. Während die Dialektik als
philosophische Methode auf Platon zurückgeht, bringt N. mit der „Sammlung
streng geprüfter Thatsachen" eine auf positivistischer Grundlage entwickelte,
induktiv verfahrende und sich auf Empirie stützende philosophische Moderne
ins Spiel. Sie berief sich in seiner Zeit mit Vorliebe auf die von ihm genannten
„Thatsachen". Hierzu die Nachweise aus einem der charakteristischen und re-
präsentativen Werke seiner Zeit: aus Büchners Kraft und Stoff, 14. Aufl. 1876.
Zu den sich auf den „kürzeren Weg" der Intuition berufenden Philosophen
gehört für N. besonders Schopenhauer. Zu ihm hatte er sich noch in der Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik vorbehaltlos bekannt. Schon im ersten
Satz seiner Schrift stimmte N. gerade Schopenhauers Begründung der Philoso-
phie auf intuitive und insofern unmittelbare Einsicht zu. „Wir werden viel für
die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben", schrieb N., „wenn wir nicht