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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0195
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180 Morgenröthe

an das Ende des Ersten Buchs der Morgenröthe, kompositorisch gezielt die Vor-
stellung von Millionen freigeisterischer Atheisten, die sich zusammenschlie-
ßen, indem sie sich „ein Zeichen geben" (88, If.) und dadurch den Mut
gewinnen, sich auch öffentlich „zu erkennen [zu] geben" (88, 3). Damit greift
er die Vorstellung des siegverheißenden „Zeichens", das dem Kaiser Konstan-
tin in seiner Vision zuteilwurde, mit gegenteiliger Absicht auf: An die Stelle
des Kreuzeszeichens soll ein gegen die Kreuzesreligion gerichtetes „Zeichen"
treten, das den Sieg des atheistischen Freidenkertums signalisiert. Das Ziel ist
„Macht", ganz dem „Gefühl der Macht" entsprechend, das N. immer wieder in
Texten der Morgenröthe und in zahlreichen nachgelassenen Notaten aus der
Entstehungszeit für wichtig erklärt und das schließlich in die Denkfigur vom
„Willen zur Macht" übergeht. In einer Zeit transnationaler, europäischer Bünd-
nisbewegungen und Verbandsbildungen hofft er auf die sich vereinigenden
atheistischen Freigeister: „sie werden sofort eine Macht in Europa sein und,
glücklicherweise, eine Macht zwischen den Völkern!" (88, 3-5). Zum Zusam-
menhang zwischen Brahmanentum und „Gefühl der Macht" vgl. Μ 65 und M
113. In der Schrift Zur Genealogie der Moral nimmt N. die in M 113 traktierte
Geschichte vom König Vigvamitra und seinem durch radikale Askese gewonne-
nen „Gefühl der Macht" noch einmal auf (GM III, 10).
Zweites Buch
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89, 3 f. Man wird moralisch, - nicht weil man moralisch ist!] N.
führt den schon im Ersten Buch mehrmals formulierten Leitgedanken von der
„Sittlichkeit der Sitte" fort: Er betont, dass es keine authentische Moral gibt,
sondern nur eine ,moralische' Kodifizierung des „Herkommens" (der „Sitte"),
welches die moralischen Urteile und schließlich auch die moralischen Gefühle
bestimmt. N. radikalisiert diese Position noch, indem er von einer „Unterwer-
fung unter die Moral" spricht.
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89, 10 Wandel der Moral.] Schon im Ersten Buch hatte N. mehrmals darge-
stellt, dass es je nach Epochen und Kulturkreisen ganz unterschiedliche mora-
lische Vorstellungen und Wertungen gibt - dass Moral also wandelbar ist. Hier
begreift er diese Wandelbarkeit als eine dynamische Prozessualität: Es gebe
„ein fortwährendes Umwandeln und Arbeiten an der Moral" (89, 10 f.). Implizit
meint er damit auch seine eigene Operation, mit der er nicht nur „moralische
 
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