194 Morgenröthe
das schon auf den „Willen zur Macht" vorausweist. Hierzu und zu N.s Reduk-
tion von „Recht" und „Pflicht" auf Machtverhältnisse im vorliegenden Text
vgl. den Überblickskommentar S. 45. Die Korrelation von Recht (Gerechtig-
keit) und Macht erörtert N. schon in Menschliches, Allzumenschliches I 92,
KSA 2, 89.
113
102, 10 Das Streben nach Auszeichnung.] Hier behandelt N. das schon
im vorigen Text traktierte „Gefühl der Macht" unter dem besonderen Gesichts-
punkt der Macht, die der Mensch durch sein „Streben nach Auszeichnung"
gegen sich selbst ausübt. Als besonderes Beispiel einer solchen gegen sich
selbst ausgeübten Macht und des daraus gewonnenen Machtgefühls, ja sogar
„Selbstgenusses" (103, 31) bis hin zu „Wollüsten der Macht" (104, 14 f.) wählt
er den „Asketen" - einen Typus, dem Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die
Welt als Wille und Vorstellung einen prominenten Platz zuweist (vgl. den Über-
blickskommentar S. 45 f.). Doch verkehrt N. Schopenhauers Auffassung des As-
keten ins Gegenteil. Für Schopenhauer resultiert das Asketentum aus der Ver-
neinung des Willens zum Leben. Es folgt aus der pessimistischen Einsicht in
den unseligen, negativen Charakter des Daseins überhaupt. Deshalb strebt der
Asket als letzte Konsequenz die Selbst-Auslöschung an. N. dagegen sucht im
Asketentum das Gefühl der Selbst-Steigerung bis zum „Gefühl von Macht" auf,
wenn auch mit deutlichen Vorstellungen von Perversion gerade im Bereich der
Religion. Mit dieser Absicht nennt er exemplarisch Paulus, Dante und Calvin
(104, 13) und schon vorher den Brahmanenkönig Vigvamitra. Zum biographi-
schen Hintergrund des bis zur Lust an der Marter gesteigerten Asketentums
vgl. den Überblickskommentar S. 8 und 102-105.
N.s aufgrund direkter Entsprechungen identifizierbare Quelle für die Le-
gende vom Brahmanenkönig (103, 24-27) ist Jacob Wackernagels Schrift Über
den Ursprung des Brahmanismus, die er in seiner persönlichen Bibliothek hatte
(Nachweis: Brusotti 1993b, 235 f.). Noch in seiner Schrift Zur Genealogie der
Moral nimmt N. die Legende von Vigvamitra unter dem Aspekt des Machtge-
fühls auf: „Ich erinnere an die berühmte Geschichte des Königs Vigvamitra,
der aus tausendjährigen Selbstmarterungen ein solches Machtgefühl und Zu-
trauen zu sich gewann, dass er es unternahm, einen neuen Himmel zu bauen:
das unheimliche Symbol der ältesten und jüngsten Philosophen-Geschichte
auf Erden" (GM III 10). Mit der abschließenden Bemerkung zur „jüngsten Philo-
sophen-Geschichte" spielt N. auf sich selbst, sein biographisch fassbares „Stre-
ben nach Auszeichnung" und seine „Martern" an, deren Reflexe im hier zu
das schon auf den „Willen zur Macht" vorausweist. Hierzu und zu N.s Reduk-
tion von „Recht" und „Pflicht" auf Machtverhältnisse im vorliegenden Text
vgl. den Überblickskommentar S. 45. Die Korrelation von Recht (Gerechtig-
keit) und Macht erörtert N. schon in Menschliches, Allzumenschliches I 92,
KSA 2, 89.
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102, 10 Das Streben nach Auszeichnung.] Hier behandelt N. das schon
im vorigen Text traktierte „Gefühl der Macht" unter dem besonderen Gesichts-
punkt der Macht, die der Mensch durch sein „Streben nach Auszeichnung"
gegen sich selbst ausübt. Als besonderes Beispiel einer solchen gegen sich
selbst ausgeübten Macht und des daraus gewonnenen Machtgefühls, ja sogar
„Selbstgenusses" (103, 31) bis hin zu „Wollüsten der Macht" (104, 14 f.) wählt
er den „Asketen" - einen Typus, dem Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die
Welt als Wille und Vorstellung einen prominenten Platz zuweist (vgl. den Über-
blickskommentar S. 45 f.). Doch verkehrt N. Schopenhauers Auffassung des As-
keten ins Gegenteil. Für Schopenhauer resultiert das Asketentum aus der Ver-
neinung des Willens zum Leben. Es folgt aus der pessimistischen Einsicht in
den unseligen, negativen Charakter des Daseins überhaupt. Deshalb strebt der
Asket als letzte Konsequenz die Selbst-Auslöschung an. N. dagegen sucht im
Asketentum das Gefühl der Selbst-Steigerung bis zum „Gefühl von Macht" auf,
wenn auch mit deutlichen Vorstellungen von Perversion gerade im Bereich der
Religion. Mit dieser Absicht nennt er exemplarisch Paulus, Dante und Calvin
(104, 13) und schon vorher den Brahmanenkönig Vigvamitra. Zum biographi-
schen Hintergrund des bis zur Lust an der Marter gesteigerten Asketentums
vgl. den Überblickskommentar S. 8 und 102-105.
N.s aufgrund direkter Entsprechungen identifizierbare Quelle für die Le-
gende vom Brahmanenkönig (103, 24-27) ist Jacob Wackernagels Schrift Über
den Ursprung des Brahmanismus, die er in seiner persönlichen Bibliothek hatte
(Nachweis: Brusotti 1993b, 235 f.). Noch in seiner Schrift Zur Genealogie der
Moral nimmt N. die Legende von Vigvamitra unter dem Aspekt des Machtge-
fühls auf: „Ich erinnere an die berühmte Geschichte des Königs Vigvamitra,
der aus tausendjährigen Selbstmarterungen ein solches Machtgefühl und Zu-
trauen zu sich gewann, dass er es unternahm, einen neuen Himmel zu bauen:
das unheimliche Symbol der ältesten und jüngsten Philosophen-Geschichte
auf Erden" (GM III 10). Mit der abschließenden Bemerkung zur „jüngsten Philo-
sophen-Geschichte" spielt N. auf sich selbst, sein biographisch fassbares „Stre-
ben nach Auszeichnung" und seine „Martern" an, deren Reflexe im hier zu