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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0208
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Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 100 193

ethnologischen Beispielen belegt, um die völlige Verschiedenartigkeit ,morali-
scher' Bewertungen darzutun, bis hin zur Anmerkung der von N. in Μ 18 ange-
führten „Grausamkeiten" und bis zu Betrug, Diebstahl und Mord, von denen
N. aus der immoralistischen Gegenperspektive als von „Tugenden" des Natur-
zustands spricht (32, 1-13). Büchner schreibt: „Völker im Natur-Zustand entbeh-
ren meist aller moralischen Eigenschaften und begehen Grausamkeiten und
Velleitäten, für die gebildete Nationen keinen Begriff haben; und zwar finden
Freund und Feind solches Benehmen in der Ordnung [...] selbst die alten Lace-
dämonier betrachteten einen mit großer Schlauheit begangenen Diebstahl für
das höchste Verdienst [...] Brehm (Reiseskizzen aus Nordost-Afrika, 1855) er-
zählt, daß ,die Neger von Ost-Sudan (Nilländer) Betrug, Diebstahl und Mord
nicht nur entschuldigen, sondern sogar für eine des Mannes ganz würdige That
halten'. Lug und Trug gilt bei ihnen als Sieg geistiger Ueberlegenheit über Be-
schränktheit. Von den Somalis, den Bewohnern eines südlich von Aden liegen-
den und durch den Meerbusen von Aden von der arabischen Küste getrennten
Landstrichs, erzählt Kapitän Speke, daß ein erfolgreicher Betrug ihnen ange-
nehmer sei als jede andere Art, ihren Lebensunterhalt zu erwerben, und daß
die Erzählung solcher Thaten die Hauptwürze ihrer geselligen Unterhaltungen
bilde. (Blackwood's Edinburgh Magazine) [...] Von den Bogos, einer Völker-
schaft in Nord-Abyssinien, erzählt Werner Munzinger (Ueber die Sitten und das
Recht der Bogos, Winterthur), daß die Begriffe von Gut und Bös bei ihnen ganz
ineinander verschwimmen und nichts Anderes, als Nützlich und Unnütz, be-
deuten. Tugendhaft ist bei ihnen der Unerschrockene, der Bluträcher, der
Schweigsame, der seinen Haß bis zu einem günstigen Augenblicke in sich ver-
schließt [...] Raub bringt Ehre, nur Diebstahl ist verachtet. In ähnlicher Weise
erzählt Waiz (Anthropologie der Naturvölker, 1859), wie ein solcher Natur-
Mensch, über den Unterschied von Gut und Bös befragt, anfangs seine Unwis-
senheit darüber eingestand, nach einigem Besinnen aber hinzufügte, gut sei,
wenn man Andern ihre Weiber nehme, bös aber, wenn sie Einem selbst ge-
nommen würden!" (Büchner 1876, 245-247)
112
100, 7 Zur Naturgeschichte von Pflicht und Recht.) In diesem und
im folgenden Text (Μ 113) nimmt N. das schon im Ersten Buch angeschnittene
Thema der Macht verstärkt auf (vgl. Μ 18: „der Grausame geniesst den höchs-
ten Kitzel des Machtgefühls", 30, 29 f.; Μ 23: „das Gefühl der Macht", 34,
32). Macht samt deren subjektivem Erlebnis wird nun zu einer zentralen Vor-
stellung. Aus ihr leitet N. die Begriffe „Pflicht" und „Recht" ab. Auch zahlrei-
che nachgelassene Notate aus dieser Zeit kreisen um das „Gefühl der Macht",
 
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