Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 116 203
besonderer Bedeutung, weil davon die ,moralische' Verantwortlichkeit des
Menschen abhängt. Diese bestreitet N. schon in früheren Texten der Morgenrö-
the, um die ,Moral' als vorurteilshaft darzustellen. In einem nachgelassenen
Notat vom Sommer 1880, in dem N. die Adäquatheit von Redewendungen wie
„ich will", „ich werde thun" statt: „es geschieht", „es wird gethan" bezweifelt,
stellt er fest: „einstmals wird man einsehen, daß das Wollen in Bezug auf uns
selbst ebenso ein Vorurtheil ist", und er fährt fort: „So beruht die Pflicht auf
einem Vorurtheil? Auf einem unberechtigten Stolze?" (5[43], KSA 9, 191). In der
Götzen-Dämmerung (GD ,Die vier grossen Irrthümer' 3) bestreitet N. die Theorie
vom „Willen als Ursache" einer Handlung (KSA 6, 90-91), weil schon das „Ich"
zur Fabel geworden sei.
125
116, 16 Vom „Reiche der Freiheit".] Wie schon in M 116 (108, 20), wo N.
die Vorstellung von ,moralischer' Freiheit kritisiert, wendet er sich hier gegen
die idealistische Vorstellung einer im „Denken" sich manifestierenden ver-
meintlichen „Freiheit" des Menschen. Die Sphäre des Denkens ist für ihn von
der Wirklichkeit abgelöst und erreicht die Wirklichkeit gar nicht, obwohl er an
anderer Stelle im Anschluss an Schopenhauer den Intellekt als „Werkzeug"
naturaler ,Wirklichkeit', nämlich der Triebsphäre interpretiert, die Schopen-
hauer auf den ,Willen' zurückführte. Hier, in M 125, legt N. die ,Wirklichkeit'
auf die Formen des „Thuns, Wollens und Erlebens" (117, 3) fest. Das problemati-
sche Verhältnis von Denken und Wirklichkeit beschäftigte ihn schon früh, wo-
bei er sich an den Werken des russischen Philosophen Afrikan Spir inspirierte,
der in Leipzig, Tübingen und Stuttgart studiert hatte, sich später in der
Schweiz niederließ und seine Werke in deutscher Sprache verfasste, dann auch
z. T. in französischer Übersetzung publizierte. 1869 veröffentlichte Spir seine
Schrift Forschung nach der Gewissheit in der Erkenntniss der Wirklichkeit. N.s
Lektüre dieser Schrift ist für die Zeit zwischen Sommer 1872 und Anfang 1873
nachgewiesen (Schlechta/Anders 1962, 119). 1873 arbeitete Spir sein Konzept zu
dem von N. alsbald herangezogenen Hauptwerk aus: Denken und Wirklichkeit,
Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie, das in vier Auflagen er-
schien, mit einer französischen Übersetzung der 3. Auflage. N. entlieh es noch
1873 aus der Universitätsbibliothek Basel und zitiert Spirs Denken und Wirklich-
keit bereits in seiner 1873 verfassten nachgelassenen Schrift Die Philosophie im
tragischen Zeitalter der Griechen. Spirs Gedanken waren ihm so wichtig, dass
er am 2. Februar 1877 von Sorrent aus seinen Verleger Ernst Schmeitzner bat,
ihm die zweite, überarbeitete Auflage zu schicken. Am 22. November 1879, als
sich N. nach Vollendung von Menschliches, Allzumenschliches bereits der Arbeit
besonderer Bedeutung, weil davon die ,moralische' Verantwortlichkeit des
Menschen abhängt. Diese bestreitet N. schon in früheren Texten der Morgenrö-
the, um die ,Moral' als vorurteilshaft darzustellen. In einem nachgelassenen
Notat vom Sommer 1880, in dem N. die Adäquatheit von Redewendungen wie
„ich will", „ich werde thun" statt: „es geschieht", „es wird gethan" bezweifelt,
stellt er fest: „einstmals wird man einsehen, daß das Wollen in Bezug auf uns
selbst ebenso ein Vorurtheil ist", und er fährt fort: „So beruht die Pflicht auf
einem Vorurtheil? Auf einem unberechtigten Stolze?" (5[43], KSA 9, 191). In der
Götzen-Dämmerung (GD ,Die vier grossen Irrthümer' 3) bestreitet N. die Theorie
vom „Willen als Ursache" einer Handlung (KSA 6, 90-91), weil schon das „Ich"
zur Fabel geworden sei.
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116, 16 Vom „Reiche der Freiheit".] Wie schon in M 116 (108, 20), wo N.
die Vorstellung von ,moralischer' Freiheit kritisiert, wendet er sich hier gegen
die idealistische Vorstellung einer im „Denken" sich manifestierenden ver-
meintlichen „Freiheit" des Menschen. Die Sphäre des Denkens ist für ihn von
der Wirklichkeit abgelöst und erreicht die Wirklichkeit gar nicht, obwohl er an
anderer Stelle im Anschluss an Schopenhauer den Intellekt als „Werkzeug"
naturaler ,Wirklichkeit', nämlich der Triebsphäre interpretiert, die Schopen-
hauer auf den ,Willen' zurückführte. Hier, in M 125, legt N. die ,Wirklichkeit'
auf die Formen des „Thuns, Wollens und Erlebens" (117, 3) fest. Das problemati-
sche Verhältnis von Denken und Wirklichkeit beschäftigte ihn schon früh, wo-
bei er sich an den Werken des russischen Philosophen Afrikan Spir inspirierte,
der in Leipzig, Tübingen und Stuttgart studiert hatte, sich später in der
Schweiz niederließ und seine Werke in deutscher Sprache verfasste, dann auch
z. T. in französischer Übersetzung publizierte. 1869 veröffentlichte Spir seine
Schrift Forschung nach der Gewissheit in der Erkenntniss der Wirklichkeit. N.s
Lektüre dieser Schrift ist für die Zeit zwischen Sommer 1872 und Anfang 1873
nachgewiesen (Schlechta/Anders 1962, 119). 1873 arbeitete Spir sein Konzept zu
dem von N. alsbald herangezogenen Hauptwerk aus: Denken und Wirklichkeit,
Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie, das in vier Auflagen er-
schien, mit einer französischen Übersetzung der 3. Auflage. N. entlieh es noch
1873 aus der Universitätsbibliothek Basel und zitiert Spirs Denken und Wirklich-
keit bereits in seiner 1873 verfassten nachgelassenen Schrift Die Philosophie im
tragischen Zeitalter der Griechen. Spirs Gedanken waren ihm so wichtig, dass
er am 2. Februar 1877 von Sorrent aus seinen Verleger Ernst Schmeitzner bat,
ihm die zweite, überarbeitete Auflage zu schicken. Am 22. November 1879, als
sich N. nach Vollendung von Menschliches, Allzumenschliches bereits der Arbeit