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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0251
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236 Morgenröthe

rauf achten, nicht verächtlich, ängstlich, feige, sklavisch und weibisch zu tun,
und vor allem muß jenes Geschrei des Philoktetes abgelehnt und verworfen
werden" („sed hoc idem in dolore maxume est providendum, ne quid abiecte,
ne quid timide, ne quid ignave, ne quid serviliter muliebriterve faciamus, in
primisque refutetur ac reiciatur Philocteteus ille clamor"; Tusculanae disputa-
tiones II, 55).
Die im Jahre 409 v. Chr. aufgeführte Philoktet-Tragödie gehört zu den Al-
terswerken des Sophokles. Ihr liegt folgende Fabel zugrunde: Weil Philoktet
bereit war, Herakles von seinen Qualen zu erlösen, indem er den Scheiterhau-
fen anzündete, auf dem dieser sterben wollte, schenkte ihm Herakles seinen
Bogen mit den vergifteten Pfeilen. Ein altes Orakel, von dem die Griechen erst
im zehnten Jahr ihrer Belagerung Trojas erfuhren, hatte verkündet, Troja kön-
ne nur mit den Pfeilen des Herakles erobert werden. Doch Philoktet war nicht
bereit, den Griechen, die ihn im Stich gelassen hatten, seine Waffen zu geben.
Die Heerführer der Griechen, Agamemnon und Menelaos, ließen ihn zehn Jah-
re zuvor während der Überfahrt nach Troja durch Odysseus auf der Insel Lem-
nos aussetzen, denn er litt an einer Wunde, die einen unerträglichen Geruch
verbreitete. Überdies konnte niemand Philoktets Schmerzensschreie aushalten.
Insofern ist die Fabel im Hinblick auf den von N. thematisierten Schmerz rele-
vant. Das Hauptgeschehen der Tragödie hat einen anderen Schwerpunkt.
N.s positive Berufung auf eine „Philosophie", welche die Affekte negiert,
ist an sich schon zweifelhaft, da er in anderen Texten gerade dagegen kritisch
Stellung bezieht. Ferner ist die Berufung auf Platon erratisch, denn Platon und
der Platonismus bilden ansonsten ein Hauptangriffsziel im Zusammenhang
von N.s Ablehnung des Idealismus und seinen Attacken gegen das Christen-
tum, das er als „Platonismus für's Volk" bezeichnete (JGB Vorrede, KSA 5, 12,
33 f.). Was N. vor allem übergeht: Die griechische Tragödie, der er seit seiner
Erstlingsschrift und noch weit darüber hinaus höchste kulturelle Bedeutung
zumaß, sollte Furcht und Mitleid angesichts des Leidens und der Schmerzen
der Helden erregen. Deshalb ist die - ungehemmte! - Entladung (ein Aus-
druck, den N. selbst verwendet) des Schmerzes ein wesentliches Element. Der
Philoktet des Sophokles bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme, sondern die
Regel. Am meisten freilich erschüttert die Darstellung des Schmerzes im König
Ödipus, als Ödipus am Ende, als er sich aus Verzweiflung selbst die Augen
ausgestochen hat, mit leeren Augenhöhlen, aus denen das Blut strömt, in die
Klagen über sein furchtbares Schicksal ausbricht und auch der Chor bei diesem
Anblick zu Jammer und sogar zu Schmerzensschreien hingerissen wird.
Schmerzerfüllte Klagen angesichts der Leidensschicksale der Helden haben ei-
nen festen Platz in der griechischen Tragödie: im sog. ,Kommos', einem klagen-
den Wechselgesang zwischen dem Chor und dem Protagonisten.
 
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