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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0271
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256 Morgenröthe

denz, die sich im Positivismus und Realismus sowie in der Hinwendung zu
einer teils naturalistischen, teils materialistischen Weltanschauung ausprägte.
Dieser Tendenz folgte N. selbst gerade in der Morgenröthe. Vgl. den Überblicks-
kommentar zum dritten Buch.

177
156, 23 Einsamkeit lernen.] Schon in seiner Erstlingsschrift hatte N. den
Journalismus sowie die dynamische Entwicklung des Pressewesens seit 1830
und vollends seit 1848 kulturkritisch ins Visier genommen. Die Journalisten
nannte er „papierne Sclaven des Tages" (GT 20, KSA 1, 130, 19). Schopenhauer
wollte die Bezeichnung ,Journalist' mit dem Wort „Tagelöhner" übersetzt wis-
sen (PP II, § 272: „Ueber Schriftstellerei und Stil"). Vgl. den ausführlichen Kom-
mentar zum zeitgenössischen Pressewesen in NK 1/1, 130, 19-25. N. versichert
sich in zahlreichen Texten der Morgenröthe der eigenen Entscheidung für die
„Einsamkeit".

178
157, 8 Die Täglich-Abgenützten.] Dieser Text führt die Reflexion des vo-
rangehenden fort. Dort war von den „jungen, begabten, vom Ehrgeiz gemarter-
ten Männern" (156, 24 f.) die Rede, die sich als Journalisten auf das Tagesge-
schehen fixieren. Als Gegensphäre zu diesem dem Getriebe „in den grossen
Städten der Weltpolitik" ausgesetzten Beruf hatte er „Einsamkeit" empfohlen,
in der bedeutende Werke reifen können. Dieser Empfehlung entspricht in M
178 die Forderung, „sich selber eine Richtung zu geben" (157, 10 f.), wofür man
„Zeit" brauche. Für die Einsamkeit steht hier die Wüste als Rückzugsgebiet,
wo die Selbstfindung abseits vom Weltgetriebe möglich ist. Der zitathaft in
Anführungszeichen gesetzte Passus „in die Wüste geschickt zu werden" erin-
nert an den in mehreren Evangelien berichteten Rückzug Jesu in die Wüste;
vgl. Markus 1, 12, wo es nach der Auserwählung durch Gottes „Stimme vom
Himmel" (1, 11) heißt: „Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste"; Lukas 5,
16, wo Jesus aus der Menge des Volks, die er durch sein Wirken angezogen hat,
fortgeht: „Er aber entwich in die Wüste und betete". In M 491 vertieft N. die in
M 178 begonnene Reflexion unter der Überschrift „Auch desshalb Ein-
samkeit": „A: So willst du wieder in deine Wüste zurück? - B: Ich bin nicht
schnell, ich muss auf mich warten, - es wird spät, bis jedesmal das Wasser
aus dem Brunnen meines Selbst an's Licht kommt [...] Unter Vielen lebe ich
wie Viele und denke nicht wie ich" (290, 2-9).
 
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