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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0270
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Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 154-156 255

175
155, 21f. Grundgedanke einer Cultur der Handeltreibenden.] Der
Wirtschaftsliberalismus, der im 18. Jahrhundert von Schottland ausging (Adam
Smith), mündete in der Nützlichkeitsethik Benthams und später John Stuart
Mills (vgl. NK Μ 174), die N. mit den „Propheten der handeltreibenden Classe"
meint (156, 7). Er zielt auch auf Vertreter des deutschen Liberalismus, der sich
von einem ursprünglich freiheitlich-demokratischen Engagement, das N.
schon in der Geburt der Tragödie strikt ablehnte, nach der gescheiterten Revo-
lution von 1848 und dann noch mehr nach dem deutsch-französischen Krieg
von 1870/71 zu einer nationalen und staatstragenden Wirtschaftspartei gewan-
delt hatte. Diese sog. Nationalliberalen hofften zu Beginn der Siebzigerjahre
noch auf die Synthese von mächtigem Nationalstaat und parlamentarischem
Verfassungsstaat. Aber ungeachtet ihrer juristischen Leistungen im Bereich des
bürgerlichen Rechts, bei der Ausgestaltung des Rechtswesens und wichtiger
Reichsinstitutionen gerieten sie bald zwischen die Fronten der autoritären,
wenngleich nicht reformfeindlichen Regierung Bismarcks und der weiterdrän-
genden politischen Bewegungen. Einen Parlamentarismus auf der Grundlage
des allgemeinen Wahlrechts lehnten prominente Vertreter aus der Sorge um
den Verlust bildungs- und besitzbürgerlicher Privilegien ab. Das abschließende
Horaz-Zitat (Satiren I 5, 100) - Apella war ein häufiger Beiname von freigelasse-
nen Sklaven - bezeichnet einen leichtgläubigen Juden („das glaube der Jude
Apella"). Die Anspielung auf den „Juden Apella" ist nicht nur gelehrter Art,
denn wie die Engländer, an die N. vor allem denkt, galten die Juden als Expo-
nenten einer handeltreibenden Gesellschaft. Die z. T. auch auf die Bourgeoisie
der Gründerzeit gemünzte Kritik wurde immer mehr auf die Juden übertragen.
Werner Sombart, ein prominenter Vertreter der konservativen Revolution, ver-
öffentlichte 1911 ein entsprechendes Werk mit dem Titel Die Juden und das
Wirtschaftsleben. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs übertrug er die darin
entwickelte Ideologie einfach auf die Engländer: 1915 erschien sein alsbald
weit verbreitetes Buch Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. An N.s
Begriffswelt orientierte sich Sombart immer wieder, vor allem mit der Hervor-
hebung des „Willens": Die Engländer figurieren als Krämerseelen, die Deut-
schen hingegen sind mit einer willensstarken Heldenseele ausgerüstet.

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156, 12 Die Kritik über die Väter.] Die Kritik an der Väter-Generation
markierte seit den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts die Ablösung von Ro-
mantik und Idealismus durch eine antiromantische und antiidealistische Ten-
 
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