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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0272
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Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 156-158 257

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157, 23 So wenig als möglich Staat!] Der historische Hintergrund für
die Rede von der ,„allgemeinen Sicherheit'" (158, 5; 158, 6 f.) wird durch die
nachfolgenden Ausführungen deutlicher erkennbar, in denen N. die Tendenz
kritisiert, die „Gesellschaft diebessicher und feuerfest und unendlich bequem
für jeden Handel und Wandel zu machen und den Staat zur Vorsehung im
guten und schlimmen Sinne umzuwandeln" (158, 8-11). Hier zielt N. auf wichti-
ge, aber von ihm weitgehend abgelehnte Errungenschaften der Zeit. Zwischen
1873 und 1877 waren wesentliche Bereiche des bürgerlichen Rechts kodifiziert
worden, um ein rechtliches Fundament für das nach dem deutsch-französi-
schen Krieg von 1870/71 neu entstandene Deutsche Reich zu schaffen. Im Be-
reich des Zivilrechts formte man die juristische Grundlage für die liberale Wirt-
schaftsgesellschaft, die N. mit dem „Wandel und Handel" und abschließend
mit dem Hinweis auf die „Ökonomie" (158, 16 f.) meint. Wie die Polemik gegen
einen Staat nahelegt, der nun „zur Vorsehung im guten und schlimmen Sinne
umgewandelt" werde, hat N. vielleicht auch schon die Diskussionen wahrge-
nommen, die im Vorfeld der entscheidenden, unter der Regierung Bismarcks
erlassenen Sozialgesetze geführt wurden: 1883 wurde die Krankenversiche-
rung, 1884 die Unfallversicherung eingeführt (1889 dann noch die Alters- und
Invalidenversicherung).

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158, 20 Die Kriege.] Der lapidare Satz, auf den sich N. hier beschränkt -
„Die grossen Kriege der Gegenwart sind die Wirkungen des historischen Studi-
ums" (158, 20 f.) - macht exemplarisch deutlich, wie fern N. den Realfaktoren
des historischen Geschehens steht, hier insbesondere den Machtinteressen der
Großmächte, die zu den Kriegen führten. Dies ist umso erstaunlicher, als er
den „Willen zur Macht" propagierte.

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158, 23 Regieren.] Der zweite Teil dieser Reflexion, der die Sphäre des staat-
lichen Regierens als ein Übel darstellt, entspricht N.s eigener Position, wie er
sie kurz vorher in M 179 formuliert: „So wenig als möglich Staat" (157,
23). In der Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
hatte N. sogar die radikale, aus Wagners anarchistischer Phase übernommene
Losung ausgegeben: „Den Staat vernichten". Vgl. NK M 164.
 
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