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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0273
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258 Morgenröthe

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158, 27 Die grobe Consequenz.] In Μ 301 pointiert N. unter der Über-
schrift „, Charaktervoll'" die schon im vorliegenden Text hervorgehobene
fragwürdige Gleichsetzung von Charakter und Konsequenz mit folgenden Wor-
ten: ,„Was ich einmal gesagt habe, das thue ich' - diese Denkweise gilt als
charaktervoll. Wie viele Handlungen werden gethan, nicht weil sie als die ver-
nünftigsten ausgewählt worden sind, sondern weil sie, als sie uns einfielen,
auf irgend welche Art unsere Ehrsucht und Eitelkeit gereizt haben, sodass wir
dabei verbleiben und sie blindlings durchsetzen!" (223, 2-8) In M 560 setzt sich
N. kritisch mit Schopenhauers Charakter-Begriff auseinander, vgl. die Scho-
penhauer-Zitate in NK M 560. Und in einem nachgelassenen Notat vom Herbst
1880 äußert er sich abschätzig über das Konzept des Charakters, das er mit
Unaufrichtigkeit assoziiert: „Die Menschen mit der Maske, die sogenannten
Charaktere, die sich nicht schämen, ihre Maske zu zeigen" (6[407], KSA 9,
302).
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159, 6 Die Alten und die Jungen.] Schon in den bisherigen Texten hatte
N. mehrmals die „moralischen Moden" ins Visier genommen (in M 131; M 174).
Nun versucht er, dieses Thema mit einem weitgedehnten Moralbegriff am Wan-
del der politischen Einstellung zum Parlamentarismus weiterzuverfolgen, um
auch in diesem Bereich die ,Moral' zu relativieren. Der in England, Amerika
und Frankreich schon weitgehend gefestigte Parlamentarismus war samt dem
mit ihm verbundenen Parteienwesen, das N. ebenfalls kritisiert, in Deutsch-
land noch ein kontrovers diskutiertes Phänomen.

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159, 23 Der Staat als Erzeugniss der Anarchisten.] Der zeitgenössi-
sche Anarchismus - vgl. NK 13, 11 und NK M 164 - beschäftigte N. immer wie-
der bis in seine späten Schriften hinein. Nach einer gewissen Faszination, die
schon aus der Wahrnehmung von Wagners anarchistischer Phase in der Zeit
des Dresdner Mai-Aufstands von 1849 herrührte, sich aber auch aus einer Affi-
nität aufgrund des eigenen radikalen Freigeistertums und ,Immoralismus' er-
klärt, lehnte N. später hingegen den Anarchismus wegen seiner Nähe zu revo-
lutionären Tendenzen des Sozialismus vehement ab. Gegen die sozialen Bewe-
gungen des 19. Jahrhunderts, deren organisatorischen Zusammenschluss in
den „socialistischen Lagern" (159, 26) er wahrnahm, reagierte er mit einem for-
 
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