Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 158-160 259
cierten Aristokratismus und in den späten Schriften sogar mit einem Lobpreis
des Kastenwesens. Im vorliegenden Text verfährt er dialektisch psychologisie-
rend: Die Rede von der „eisernen Kette", die sich die Anarchisten anlegen, von
der „furchtbaren Disciplin" und den „Gesetzen" (159, 27-30) folgt dem Schema
der dialektischen Reaktion auf die eigenen anarchistischen Grundtendenzen.
Damit verbindet N. das ihn auch in anderen Texten der Morgenröthe und in
einer Reihe nachgelassener Notate interessierende „Gefühl der Macht" (160, 2),
vgl. den Überblickskommentar S. 30 f. und S. 42 sowie Μ 348 und NK hierzu.
185
160, 5 Bettler.] Dieses Thema steht im Zusammenhang mit N.s Ablehnung
des Mitleids. Vgl. hierzu M 132-146 und die Kommentare. Er reflektiert nicht
über die sozialen Ursachen oder über die Armenfürsorge. Wie N. die Forde-
rung, man solle die Bettler „abschaffen", konkret meint, bleibt unklar. Bereits
in der frühen Neuzeit gab es Verordnungen, welche die Bettler aus Städten
verbannten. Im Jahre 1748 verfügte ein Königlich-preußisches Edikt, dass
„überhaupt keine Bettler so wenig in Städten, als auch insonderheit auf dem
platten Lande geduldet werden sollen". Es solle „kein Bettler, worunter auch
abgedankte Soldaten, Handwerksbursche und dergleichen Personen zu verste-
hen sind, auf den Strassen oder vor den Türen der Almosen halber geduldet
werden" (Königlich-preußisches Edikt vom 28. 4. 1748, abgedruckt in: Sachsse/
Tennstedt 1980, 140 f.). Armut war oft nicht nur eine Folge des individuellen
Unglücks, sondern auch der sozialen Verhältnisse. Insbesondere die
zahlreichen Kriege, die Verarmung vieler Menschen infolge privilegierter
Adelsherrschaften und absolutistischer Prachtentfaltung auf Kosten der Bevöl-
kerung - der absolutistisch regierende Herzog von Württemberg beispielsweise
verkaufte sogar seine Landeskinder als Soldaten - waren Ursache für Not und
Ausgrenzung. In Frankreich zerrütteten die zahlreichen Raubkriege Ludwigs
XIV. und seine luxuriöse Bautätigkeit und Hofhaltung, deren bekanntestes
Zeugnis das Schloss von Versailles ist, die Staatsfinanzen und damit die wirt-
schaftliche Substanz des Landes.
In Hermann Hettners Französischer Literaturgeschichte des 18. Jahrhun-
derts, die N. in seiner persönlichen Bibliothek besaß, konnte er lesen, dass es
in Frankreich bei damals 20 Millionen Einwohnern gegen Ende der Herrschaft
des ,Sonnenkönigs' etwa 2 Millionen Bettler gab. Zusammen mit dem Adel und
der ebenfalls von Steuern und Abgaben befreiten hohen Geistlichkeit presste
das absolutistische Königtum das Land aus; dies führte zu einem Niedergang,
der schließlich in die Revolution mündete. Im 19. Jahrhundert waren Armut,
Ausbeutung und in ihrem Gefolge das Betteln vor allem eine Folge des frühka-
cierten Aristokratismus und in den späten Schriften sogar mit einem Lobpreis
des Kastenwesens. Im vorliegenden Text verfährt er dialektisch psychologisie-
rend: Die Rede von der „eisernen Kette", die sich die Anarchisten anlegen, von
der „furchtbaren Disciplin" und den „Gesetzen" (159, 27-30) folgt dem Schema
der dialektischen Reaktion auf die eigenen anarchistischen Grundtendenzen.
Damit verbindet N. das ihn auch in anderen Texten der Morgenröthe und in
einer Reihe nachgelassener Notate interessierende „Gefühl der Macht" (160, 2),
vgl. den Überblickskommentar S. 30 f. und S. 42 sowie Μ 348 und NK hierzu.
185
160, 5 Bettler.] Dieses Thema steht im Zusammenhang mit N.s Ablehnung
des Mitleids. Vgl. hierzu M 132-146 und die Kommentare. Er reflektiert nicht
über die sozialen Ursachen oder über die Armenfürsorge. Wie N. die Forde-
rung, man solle die Bettler „abschaffen", konkret meint, bleibt unklar. Bereits
in der frühen Neuzeit gab es Verordnungen, welche die Bettler aus Städten
verbannten. Im Jahre 1748 verfügte ein Königlich-preußisches Edikt, dass
„überhaupt keine Bettler so wenig in Städten, als auch insonderheit auf dem
platten Lande geduldet werden sollen". Es solle „kein Bettler, worunter auch
abgedankte Soldaten, Handwerksbursche und dergleichen Personen zu verste-
hen sind, auf den Strassen oder vor den Türen der Almosen halber geduldet
werden" (Königlich-preußisches Edikt vom 28. 4. 1748, abgedruckt in: Sachsse/
Tennstedt 1980, 140 f.). Armut war oft nicht nur eine Folge des individuellen
Unglücks, sondern auch der sozialen Verhältnisse. Insbesondere die
zahlreichen Kriege, die Verarmung vieler Menschen infolge privilegierter
Adelsherrschaften und absolutistischer Prachtentfaltung auf Kosten der Bevöl-
kerung - der absolutistisch regierende Herzog von Württemberg beispielsweise
verkaufte sogar seine Landeskinder als Soldaten - waren Ursache für Not und
Ausgrenzung. In Frankreich zerrütteten die zahlreichen Raubkriege Ludwigs
XIV. und seine luxuriöse Bautätigkeit und Hofhaltung, deren bekanntestes
Zeugnis das Schloss von Versailles ist, die Staatsfinanzen und damit die wirt-
schaftliche Substanz des Landes.
In Hermann Hettners Französischer Literaturgeschichte des 18. Jahrhun-
derts, die N. in seiner persönlichen Bibliothek besaß, konnte er lesen, dass es
in Frankreich bei damals 20 Millionen Einwohnern gegen Ende der Herrschaft
des ,Sonnenkönigs' etwa 2 Millionen Bettler gab. Zusammen mit dem Adel und
der ebenfalls von Steuern und Abgaben befreiten hohen Geistlichkeit presste
das absolutistische Königtum das Land aus; dies führte zu einem Niedergang,
der schließlich in die Revolution mündete. Im 19. Jahrhundert waren Armut,
Ausbeutung und in ihrem Gefolge das Betteln vor allem eine Folge des frühka-