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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0286
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Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 166-168 271

bisherigen Aussagen zufolge gerade nicht von esprit zeugt, sondern diesen ver-
deckt.
Das Hauptproblem des ganzen Textes liegt in der zweifelhaften Opposition
von Esprit und Moral, welche die Moral bloß als dumme Befangenheit, als „Vor-
urtheil" erscheinen lassen soll, das obendrein noch den Stil verdirbt. Gerade
die von N. so hochgehaltenen französischen Moralisten, besonders Pascal, der
ihn fasziniert, und nicht zuletzt der abschließend als Zeuge gegen Hegel aufge-
rufene Schopenhauer dementieren diese schon an ihren eigenen Widersprü-
chen zerbrechende Konstruktion. N. bezieht Schopenhauer in seine Ausführun-
gen nur insofern treffend ein, als er feststellt, dass dieser gegen den großen
Erfolg Hegels bei den Deutschen „gepoltert" hat (167, 17) - gepoltert hatte Scho-
penhauer allerdings fortwährend auch gegen Hegel selbst, und nicht bloß ge-
gen dessen Stil, sondern auch gegen seinen philosophischen „Kern". Ganz in-
kongruent bleibt diese Anmerkung im Horizont des Textes, dem zufolge guter
Stil (esprit) und ,Moral' sich ausschließen sollen. Denn gerade Schopenhauer
vertritt eine fundamentale moralische Position, indem er das Mitleid zum Prin-
zip der Moral macht; dagegen und infolgedessen hauptsächlich gegen Scho-
penhauer wendet sich N. in M 132-147. Andererseits war Schopenhauer ein mit
esprit, insbesondere mit geistreichen Einfällen operierender Stilist, den N.
schon früh bewunderte.
194
167, 20 Eitelkeit der Morallehrer.] Die hier formulierte Ablehnung einer
allgemeingültigen präskriptiven Moral (167, 23: „Vorschriften für Alle") geht
von einem mehrfach betonten individualistischen Standpunkt aus und wird
auf „Morallehrer" bezogen, denen psychologisierend (und moralisierend!) „Ei-
telkeit" unterstellt wird. N. lässt außer Acht, dass moralische Gebote ähnlich
wie Gesetze ursprünglich eine rechtlich ordnende und schützende Funktion
für das Leben der Menschen haben, die in der Realität nicht einzeln, sondern
in familiären und gesellschaftlich-,politischen', damit auch in kulturellen Zu-
sammenhängen leben. Schon die ältesten Moralkodifikationen - am bekann-
testen ist der Dekalog des Alten Testaments mit seinen Geboten („du sollst
nicht töten", „du sollst nicht stehlen" usw.) - sollten solche elementaren Funk-
tionen erfüllen, um dann auch wieder dem „Einzelnen" zugutezukommen.
195
168, 5 Die sogenannte classische Erziehung.] Die einleitende ,Entde-
ckung', „dass unser Leben der Erkenntniss geweiht ist", und die alsbaldige
 
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