272 Morgenröthe
Hervorhebung dieser „Weihe" dient der Suggestion einer Berufung zur Philoso-
phie, die als alternativloses „Schicksal" erscheint. Daher die folgenden Verse:
„Schicksal, ich folge dir! Und wollt' ich nicht, / ich müsst' es doch und
unter Seufzen thun!" (168, 10 f.) N. variiert mit diesen selbstverfertigten Versen
diejenigen, die Seneca in seinen Epistulae morales ad Lucilium (107, 11) aus
Cicero zitiert: „Ducunt volentem fata, / nolentem trahunt" - Cicero übertrug
mit diesen Zeilen berühmte Verse aus dem Zeushymnus des griechischen Stoi-
kers Kleanthes ins Lateinische. Sie gelten der Schicksalsergebenheit des Wei-
sen. N.s bemerkenswerte Zutat: Er sieht die nach diesem Modell verstandene
Berufung auch als leidensträchtig an („unter Seufzen" muss der Weise seinem
Schicksal folgen).
Unter dem Gesichtspunkt einer unbedingten Berufung zur „Erkenntniss"
erscheint im Folgenden alle „Bildung", wie sie im Schul- und Hochschulwesen
des 19. Jahrhunderts vermittelt wird, als verfehlt. Obwohl N. sonst gerne die
„formale Bildung" (169, 7) rühmt, besonders an den Franzosen, und obwohl er
sie bei den Deutschen vermisst, sieht er die formale Bildung als ein falsches
Bildungsziel an. Wie schon in der zweiten der Unzeitgemäßen Betrachtungen:
Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben wendet er sich hier auch
gegen die im 19. Jahrhundert auffallende Kultivierung der „Historie" (169, 7),
die mit der Romantik begonnen hatte. Auch wiederholt N. die schon in UB II
zentrale Kritik, dass das „Leben", das in der Gegenwart zu leben ist, durch das
übermäßige Interesse an der Historie Schaden nimmt. Statt in der Gegenwart
ein lebendiges Können zu lernen, werde „ein Wissen darum" vermittelt, „was
ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben!" (169, 30 f.) Dennoch be-
schwört N. selbst in einer langen Reihe rhetorischer Fragen (169, 12-26) eine
weit zurückliegende Vergangenheit mit ihrem Können: die griechische Kultur
und den „antiken Geist" (169, 26).
196
170, 22 Die persönlichsten Fragen der Wahrheit.] Da N. im Hinblick
auf objektive „Wahrheit" die skeptische Einschätzung teilt, die sich in der Fra-
ge des Pilatus: „Was ist Wahrheit?" ausdrückt (vgl. Μ 93 und NK hierzu), defi-
niert er als „Wahrheit" hier ganz subjektiv nur das vom „persönlichsten" Be-
dürfnis Erforderte: als das in anderen Texten der Morgenröthe zum Maßstab
erklärte „ego". Mit der darauf zielenden Frage „Und was will gerade ich da-
mit?" versucht er auch die „Bildung" (170, 25) ganz vom Interesse des Individu-
ums her zu konzipieren.
Hervorhebung dieser „Weihe" dient der Suggestion einer Berufung zur Philoso-
phie, die als alternativloses „Schicksal" erscheint. Daher die folgenden Verse:
„Schicksal, ich folge dir! Und wollt' ich nicht, / ich müsst' es doch und
unter Seufzen thun!" (168, 10 f.) N. variiert mit diesen selbstverfertigten Versen
diejenigen, die Seneca in seinen Epistulae morales ad Lucilium (107, 11) aus
Cicero zitiert: „Ducunt volentem fata, / nolentem trahunt" - Cicero übertrug
mit diesen Zeilen berühmte Verse aus dem Zeushymnus des griechischen Stoi-
kers Kleanthes ins Lateinische. Sie gelten der Schicksalsergebenheit des Wei-
sen. N.s bemerkenswerte Zutat: Er sieht die nach diesem Modell verstandene
Berufung auch als leidensträchtig an („unter Seufzen" muss der Weise seinem
Schicksal folgen).
Unter dem Gesichtspunkt einer unbedingten Berufung zur „Erkenntniss"
erscheint im Folgenden alle „Bildung", wie sie im Schul- und Hochschulwesen
des 19. Jahrhunderts vermittelt wird, als verfehlt. Obwohl N. sonst gerne die
„formale Bildung" (169, 7) rühmt, besonders an den Franzosen, und obwohl er
sie bei den Deutschen vermisst, sieht er die formale Bildung als ein falsches
Bildungsziel an. Wie schon in der zweiten der Unzeitgemäßen Betrachtungen:
Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben wendet er sich hier auch
gegen die im 19. Jahrhundert auffallende Kultivierung der „Historie" (169, 7),
die mit der Romantik begonnen hatte. Auch wiederholt N. die schon in UB II
zentrale Kritik, dass das „Leben", das in der Gegenwart zu leben ist, durch das
übermäßige Interesse an der Historie Schaden nimmt. Statt in der Gegenwart
ein lebendiges Können zu lernen, werde „ein Wissen darum" vermittelt, „was
ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben!" (169, 30 f.) Dennoch be-
schwört N. selbst in einer langen Reihe rhetorischer Fragen (169, 12-26) eine
weit zurückliegende Vergangenheit mit ihrem Können: die griechische Kultur
und den „antiken Geist" (169, 26).
196
170, 22 Die persönlichsten Fragen der Wahrheit.] Da N. im Hinblick
auf objektive „Wahrheit" die skeptische Einschätzung teilt, die sich in der Fra-
ge des Pilatus: „Was ist Wahrheit?" ausdrückt (vgl. Μ 93 und NK hierzu), defi-
niert er als „Wahrheit" hier ganz subjektiv nur das vom „persönlichsten" Be-
dürfnis Erforderte: als das in anderen Texten der Morgenröthe zum Maßstab
erklärte „ego". Mit der darauf zielenden Frage „Und was will gerade ich da-
mit?" versucht er auch die „Bildung" (170, 25) ganz vom Interesse des Individu-
ums her zu konzipieren.