278 Morgenröthe
geistiger Hinsicht. - Und damit meint er letztlich sich selbst: das eigene Stre-
ben nach Nobilitierung.
199
173,8 Wir sind vornehmer .] In diesem wie auch im vorigen und im nächs-
ten Text greift N. ein zeitgenössisches Modethema auf: den Adel und seine
Rolle in der Gesellschaft. Der durch ererbten Grundbesitz, Schlösser oder ande-
re repräsentative Wohnsitze, alten Reichtum, Privilegien und Titel von den an-
deren Bevölkerungsschichten abgehobene, aber auch oft durch Verarmung
(vgl. Μ 200) bedrohte Adel geriet immer mehr ins Abseits. Ursächlich hierfür
waren die Dynamik der Industrialisierung, die Entstehung eines kapitalisti-
schen Wirtschaftssystems, ein expandierender Handel sowie ein neues, zu
selbsterworbenem Reichtum gelangendes bürgerliches Unternehmertum und
schließlich auch die Verlagerung der Schwerpunkte sozialen Lebens in die neu
entstandenen Großstädte. Seine zunehmende Funktionslosigkeit machte den
Adel zu einer anachronistischen Erscheinung. Nur im Militär, wo dem Adel
die Offiziersposten zustanden, und in Staatsämtern, wo ihm die der Monarchie
nahen hohen Positionen vorbehalten blieben, spielte er noch eine nicht un-
wichtige Rolle.
Die ökonomische Krise, das obsolete Standesdenken und die Funktionslo-
sigkeit des Adels thematisierte zur gleichen Zeit, in der N. seine Texte schrieb,
Fontane in mehreren bedeutenden Romanen - in Irrungen, Wirrungen, Effi
Briest und Der Stechlin. In Irrungen, Wirrungen (1888) lässt er den in die ökono-
mische Krise geratenen und deshalb zu einer Heirat mit einer reichen, aber
ungeliebten Frau gezwungenen adligen Protagonisten, der in Berlin als preußi-
scher Offizier ein müßiges Dasein führt, eines Tages selbstkritisch und resig-
niert feststellen: „Was kann ich? Ich kann ein Pferd stallmeistern, einen Ka-
paun tranchieren und ein Jeu machen. Das ist alles" (Fontane 1971, Bd. 2, 403).
Andererseits kam bei bürgerlichen Parvenüs das Bedürfnis auf, sich durch
repräsentatives Ambiente, gesellschaftliche Verbindungen zu - wenn auch
marginalisierten - Adligen und durch einen zur Schau getragenen Sinn für
,Höheres' zu nobilitieren. Dies ist das Thema von Fontanes satirischer Zeitdia-
gnose in seinem Roman Frau Jenny Treibel. N., der selbst das Bedürfnis ver-
spürte, sich eine adlige Herkunft zuzuschreiben, versuchte aus seinem nicht
sehr deutsch klingenden Nachnamen eine angeborene Vornehmheit abzulei-
ten, indem er überlegte, ob er aus polnischem Adel stammen könnte. Vgl. NK
6/2, 372-374. Einmal behauptet er sogar: „Ich bin ein polnischer Edelmann pur
sang"! (EH, KSA 6, 268, 3) Entsprechend fallen seine Aussagen über den Adel
und die „vornehme" Art in M 199 und M 200 aus. Obwohl N. als übergeordnetes
geistiger Hinsicht. - Und damit meint er letztlich sich selbst: das eigene Stre-
ben nach Nobilitierung.
199
173,8 Wir sind vornehmer .] In diesem wie auch im vorigen und im nächs-
ten Text greift N. ein zeitgenössisches Modethema auf: den Adel und seine
Rolle in der Gesellschaft. Der durch ererbten Grundbesitz, Schlösser oder ande-
re repräsentative Wohnsitze, alten Reichtum, Privilegien und Titel von den an-
deren Bevölkerungsschichten abgehobene, aber auch oft durch Verarmung
(vgl. Μ 200) bedrohte Adel geriet immer mehr ins Abseits. Ursächlich hierfür
waren die Dynamik der Industrialisierung, die Entstehung eines kapitalisti-
schen Wirtschaftssystems, ein expandierender Handel sowie ein neues, zu
selbsterworbenem Reichtum gelangendes bürgerliches Unternehmertum und
schließlich auch die Verlagerung der Schwerpunkte sozialen Lebens in die neu
entstandenen Großstädte. Seine zunehmende Funktionslosigkeit machte den
Adel zu einer anachronistischen Erscheinung. Nur im Militär, wo dem Adel
die Offiziersposten zustanden, und in Staatsämtern, wo ihm die der Monarchie
nahen hohen Positionen vorbehalten blieben, spielte er noch eine nicht un-
wichtige Rolle.
Die ökonomische Krise, das obsolete Standesdenken und die Funktionslo-
sigkeit des Adels thematisierte zur gleichen Zeit, in der N. seine Texte schrieb,
Fontane in mehreren bedeutenden Romanen - in Irrungen, Wirrungen, Effi
Briest und Der Stechlin. In Irrungen, Wirrungen (1888) lässt er den in die ökono-
mische Krise geratenen und deshalb zu einer Heirat mit einer reichen, aber
ungeliebten Frau gezwungenen adligen Protagonisten, der in Berlin als preußi-
scher Offizier ein müßiges Dasein führt, eines Tages selbstkritisch und resig-
niert feststellen: „Was kann ich? Ich kann ein Pferd stallmeistern, einen Ka-
paun tranchieren und ein Jeu machen. Das ist alles" (Fontane 1971, Bd. 2, 403).
Andererseits kam bei bürgerlichen Parvenüs das Bedürfnis auf, sich durch
repräsentatives Ambiente, gesellschaftliche Verbindungen zu - wenn auch
marginalisierten - Adligen und durch einen zur Schau getragenen Sinn für
,Höheres' zu nobilitieren. Dies ist das Thema von Fontanes satirischer Zeitdia-
gnose in seinem Roman Frau Jenny Treibel. N., der selbst das Bedürfnis ver-
spürte, sich eine adlige Herkunft zuzuschreiben, versuchte aus seinem nicht
sehr deutsch klingenden Nachnamen eine angeborene Vornehmheit abzulei-
ten, indem er überlegte, ob er aus polnischem Adel stammen könnte. Vgl. NK
6/2, 372-374. Einmal behauptet er sogar: „Ich bin ein polnischer Edelmann pur
sang"! (EH, KSA 6, 268, 3) Entsprechend fallen seine Aussagen über den Adel
und die „vornehme" Art in M 199 und M 200 aus. Obwohl N. als übergeordnetes