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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0297
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282 Morgenröthe

macht der Perser den Mut verlor und mit seinem Flottenverband noch zu ent-
kommen suchte. Als Themistokles ihn zurückhalten wollte, habe er diesen in
beleidigender Weise bedroht. In Schopenhauers Worten: „Im Plutarch (Them.
11) lesen wir, daß der Flottenbefehlshaber Eurybiades, mit dem Themistokles
streitend, den Stock aufgehoben habe, ihn zu schlagen; jedoch nicht, daß die-
ser darauf den Degen gezogen, vielmehr daß er gesagt habe: παταξον μεν ουν,
ακουσον δε [Schopenhauer lässt die Akzente weg]: ,schlage mich, aber höre
mich'. Mit welchem Unwillen muß doch der Leser ,von Ehre' hiebei die Nach-
richt vermissen, daß das Atheniensische Offizierskorps nicht sofort erklärt
habe, unter so einem Themistokles nicht ferner dienen zu wollen!" (PP I, Scho-
penhauer 1874, Bd. 5, 399)
Die etwas verwirrende Einleitung zu N.s tendenziöser Charakterisierung
des Themistokles ist präjudiziert von dem Hinweis auf den von N. für „ehren-
voll" gehaltenen zeitgenössischen Brauch des Duells (174, 32-175, 2). Weil der
Duell-Brauch besonders bei Offizieren verbreitet war, nennt N. Themistokles
zunächst nicht mit Namen; er benennt ihn auch nicht als den Oberkommandie-
renden der Athener, der die Strategie für die entscheidende, zu einem trium-
phalen Sieg führende Seeschlacht bei Salamis entwarf, sondern er spricht (173,
22-26) „von jenem athenischen Officier, der, vor dem ganzen Generalstabe, von
einem andern Officier mit dem Stocke bedroht, diese Schmach mit dem Worte
von sich abschüttelte: ,Schlag' mich nur! Nun aber höre mich auch! (Diess that
Themistokles [...])". N.s Absicht ist es, ganz im Gegensatz zu Schopenhauer,
den „athenischen Officier" Themistokles als wenig ehrenvoll im Vergleich mit
Offizieren seiner Gegenwart erscheinen zu lassen, die eine solche schmachvol-
le Drohung mit einer Herausforderung zum Duell beantwortet hätten. In Plut-
archs Erzählung geht es aber gar nicht um einen beliebigen Ehrenhandel zwi-
schen zwei Offizieren, wie N. wegen des von ihm unterschwellig forcierten Ver-
gleichs mit zeitgenössischen Offizieren suggeriert, sondern um den angesichts
der ultimativen strategischen Entscheidung entbrannten Wortwechsel zwi-
schen dem Kommandeur der von Sparta entsandten Flotte, und Themistokles,
dem Befehlshaber der athenischen Flotte. Aus dem Kontext dieser Worte geht
hervor, dass Themistokles in einer Situation, die für die Athener von schicksal-
hafter Bedeutung war, in unmittelbarer Erwartung der Entscheidungsschlacht,
für die er die strategischen Dispositionen schon getroffen hatte, alles Persönli-
che und so auch die beleidigende Grobheit seines Kontrahenten hintanstellte,
um ihn doch noch zu überzeugen, er solle gemeinsam mit den Athenern die
Seeschlacht bei Salamis wagen.
N. übergeht das alles und reduziert die Konstellation auf einen persönli-
chen Ehrenhandel im Kleinformat preußischer Duell-Kombattanten, die er als
„vornehm" und „ritterlich" bewundert. Wie sehr sein auf „Ehre" und auf Ehr-
 
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