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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0298
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Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 173 283

verletzung durch „Schmach" konzentriertes Interesse die Darstellung be-
stimmt, geht auch aus der anachronistischen Phantasie hervor, der „Offizier"
Themistokles sei „vor dem ganzen Generalstabe" beleidigt worden. Weder steht
etwas auch nur annähernd Entsprechendes bei Plutarch, noch hatten die Athe-
ner überhaupt einen „Generalstab"; doch ließ sich N. von Schopenhauers (iro-
nischer) Rede vom „Atheniensischen Offizierskorps" verleiten.
Die weiteren Ausführungen sind weitgehend intentional überformte Phan-
tasien über ,Vornehmheit'. Dies gilt besonders für die Behauptung „Wenn aber
gar Sokrates sagte: ,der Tugendhafte ist der Glücklichste', so traute man [!]
seinen Ohren nicht, man [!] glaubte etwas Verrücktes gehört zu haben. Denn
bei dem Bilde des Glücklichsten dachte jeder Mann [!] vornehmer Abkunft an
die vollendete Rücksichtslosigkeit und Teufelei des Tyrannen" (174, 15-19).
Diese generalisierende Aussage entbehrt jeder Grundlage; N. reflektiert nicht,
dass Platon, der aus einem vornehmen Adelsgeschlecht stammte, nicht nur
dem Sokrates diese Worte in den Mund legte, sondern sie auch sich selbst zu
eigen machte. Und wiederum setzt er sich mit der Erwähnung „des Tyrannen"
über die historischen Verhältnisse hinweg: In der griechischen Geschichte gab
es mehrere Phasen und Formen der Tyrannis, die nicht in jedem Fall mit dem
modernen Begriff der ,Tyrannei' übereinstimmen. Die ältere Tyrannis entstand
gegen Ende des 7. und im Laufe des 6. Jahrhunderts v. Chr., als die Adelsherr-
schaften in den Städten zusammenbrachen. Das Volk vertraute sich einzelnen
Führern an, die als Alleinherrscher (,Tyrannen') regierten. Ganz im Gegensatz
zu N.s Behauptungen bewunderten die Adligen nicht die Alleinherrscher, viel-
mehr hassten sie diese, weil sie unter ihnen ihre adeligen Vorrechte einbüßten
und weil ihr Großgrundbesitz verteilt wurde; dieser Hass spricht aus den Ge-
dichten des Alkaios und des - N. gut bekannten - Theognis (eine ähnliche
Konstellation ergab sich später im Rom der frühen Kaiserzeit, als der auf seine
Vorrechte bedachte senatorische Adel durch die Kaiser entmachtet wurde). Die
sog. jüngere Tyrannis entstand Ende des 4. Jahrhunderts, als die athenische
Demokratie sich infolge des Peloponnesischen Krieges auflöste. In der Schluss-
phase dieses Krieges kam es zu der brutalen Willkürherrschaft der ,Dreißig
Tyrannen'. Gleichzeitig propagierten einige radikale Sophisten, an denen sich
N. orientiert, die Lehre vom Recht des Stärkeren, der zufolge die verfassungs-
mäßige Gleichheit der Bürger nur eine Erfindung der vielen Schwachen sei,
um sich vor dem ,natürlichen Recht' der Stärkeren zu schützen. N. übernimmt
diese Lehre später in seine Schrift Zur Genealogie der Moral. Diese Art von
Tyrannis kritisiert Platon im ersten Buch der Politeia und im Gorgias. Insofern
enthält N.s ,immoralistische' Schwärmerei über die „Tyrannen" schon im vor-
liegenden Text eine Gegenposition zu Platon. Vor allem ist sie Ausdruck seiner
entschieden antidemokratischen Einstellung. Aristoteles definierte die Tyran-
 
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