292 Morgenröthe
allerdings nicht von einem antiken Philosophen oder gar pauschal von ,dem'
im Kollektivsingular genannten antiken Philosophen, sondern von einem römi-
schen Dichter. Horaz beginnt eines seiner Briefgedichte (Epistulae) mit den Ver-
sen: „nil admirari prope res est una, Numici / solaque, quae possit facere et
servare beatum" (Epistulae I 6, 1) „Nichts anstaunen: nur dies Eine, dies allein
kann, o Numicius, glücklich machen und [glücklich] erhalten"). Anschließend
führt Horaz aus, dass er diesen Leitsatz „nil admirari", auf dem das Glück beru-
he, als Vermeiden unruhestiftender Gemütsbewegungen und Begehrlichkeiten
versteht, zu denen das Anstaunen aller möglichen Güter und Schätze führen
würde. Horaz selbst erinnert an die Herkunft seines Rezepts: an die stoische
Ethik, die hauptsächlich vor vier schädlichen Affekten (πάθη) bewahren will:
ήδονή (freudige Erregung), λύπη (Schmerz), έπιθυμία (Begierde), φόβος
(Furcht) - Horaz fasst sie in V. 12 zusammen („gaudeat an doleat, cupiat metu-
atne").
Wenn N. im hier zu kommentierenden Text überdies verallgemeinernd be-
hauptet, es sei „der antike Philosoph", der in diesem Satz („nil admirari") ge-
nerell „die Philosophie" sieht, so setzt er sich über die bedeutendsten Philoso-
phen der Antike hinweg. Denn Platon und Aristoteles bezeichnen gerade im
Gegenteil das „Staunen" (thaumäzein) als den Beginn alles Philosophierens.
Indem N. feststellen will: „Und ein Deutscher, nämlich Schopenhauer, geht so
weit im Gegentheil zu sagen: admirari id est philosophari" (188, 21 f.), und in-
dem er dies in ,moralisch' empörtem Ton mit „dem" „antiken Philosophen"
kontrastiert, betreibt er selbst nicht nur einen in Μ 223 nachsichtig beurteilten
„kleinen Betrug" (195, 23), sondern eine Falschmünzerei, deren er andere
Philosophen oft bezichtigt (z. B. in Ecce homo, KSA 6, 361, 1-9). Denn es han-
delt sich um berühmte Aussagen Platons und Aristoteles', die dem Altphilolo-
gen N. nicht unbekannt waren. In Platons Theaitetos, den N. nachweislich
kannte, heißt es: μάλα γάρ φιλοσόφου τούτο το πάθος, τό θαυμάζειν · ού γάρ
άλλη άρχή φιλοσοφίας ή αύτη (Theaitetos 155 d 2-4: „Denn das ist besonders
die Grundempfindung des Philosophen: das Staunen - Es gibt nämlich keinen
anderen Ursprung der Philosophie als diesen"). Aristoteles definiert im 1. Buch
seiner Metaphysik das Staunen im Sinne einer Neugier verursachenden Ver-
wunderung über etwas zunächst noch nicht dem Erkennen Zugängliches. Da-
rin liegt für ihn der Beginn der Weisheit: der Philosophie und der Wissen-
schaft: άρχονται μέν γάρ, ώσπερ εΐπομεν, άπό τού θαυμάζειν, πάντες εί ούτως
έχει (Metaphysik Α, 983 a 12-13; „Denn es beginnen, wie gesagt, alle mit der
Verwunderung (thaumäzein) darüber, ob sich etwas wirklich so verhält").
Abgesehen von der verfälschenden Konstruktion, die den Gegensatz von
deutscher und antiker Philosophie demonstrieren soll, beachtet N. auch nicht
die semantische Differenz zwischen „mirari" und „admirari" in der Losung „nil
allerdings nicht von einem antiken Philosophen oder gar pauschal von ,dem'
im Kollektivsingular genannten antiken Philosophen, sondern von einem römi-
schen Dichter. Horaz beginnt eines seiner Briefgedichte (Epistulae) mit den Ver-
sen: „nil admirari prope res est una, Numici / solaque, quae possit facere et
servare beatum" (Epistulae I 6, 1) „Nichts anstaunen: nur dies Eine, dies allein
kann, o Numicius, glücklich machen und [glücklich] erhalten"). Anschließend
führt Horaz aus, dass er diesen Leitsatz „nil admirari", auf dem das Glück beru-
he, als Vermeiden unruhestiftender Gemütsbewegungen und Begehrlichkeiten
versteht, zu denen das Anstaunen aller möglichen Güter und Schätze führen
würde. Horaz selbst erinnert an die Herkunft seines Rezepts: an die stoische
Ethik, die hauptsächlich vor vier schädlichen Affekten (πάθη) bewahren will:
ήδονή (freudige Erregung), λύπη (Schmerz), έπιθυμία (Begierde), φόβος
(Furcht) - Horaz fasst sie in V. 12 zusammen („gaudeat an doleat, cupiat metu-
atne").
Wenn N. im hier zu kommentierenden Text überdies verallgemeinernd be-
hauptet, es sei „der antike Philosoph", der in diesem Satz („nil admirari") ge-
nerell „die Philosophie" sieht, so setzt er sich über die bedeutendsten Philoso-
phen der Antike hinweg. Denn Platon und Aristoteles bezeichnen gerade im
Gegenteil das „Staunen" (thaumäzein) als den Beginn alles Philosophierens.
Indem N. feststellen will: „Und ein Deutscher, nämlich Schopenhauer, geht so
weit im Gegentheil zu sagen: admirari id est philosophari" (188, 21 f.), und in-
dem er dies in ,moralisch' empörtem Ton mit „dem" „antiken Philosophen"
kontrastiert, betreibt er selbst nicht nur einen in Μ 223 nachsichtig beurteilten
„kleinen Betrug" (195, 23), sondern eine Falschmünzerei, deren er andere
Philosophen oft bezichtigt (z. B. in Ecce homo, KSA 6, 361, 1-9). Denn es han-
delt sich um berühmte Aussagen Platons und Aristoteles', die dem Altphilolo-
gen N. nicht unbekannt waren. In Platons Theaitetos, den N. nachweislich
kannte, heißt es: μάλα γάρ φιλοσόφου τούτο το πάθος, τό θαυμάζειν · ού γάρ
άλλη άρχή φιλοσοφίας ή αύτη (Theaitetos 155 d 2-4: „Denn das ist besonders
die Grundempfindung des Philosophen: das Staunen - Es gibt nämlich keinen
anderen Ursprung der Philosophie als diesen"). Aristoteles definiert im 1. Buch
seiner Metaphysik das Staunen im Sinne einer Neugier verursachenden Ver-
wunderung über etwas zunächst noch nicht dem Erkennen Zugängliches. Da-
rin liegt für ihn der Beginn der Weisheit: der Philosophie und der Wissen-
schaft: άρχονται μέν γάρ, ώσπερ εΐπομεν, άπό τού θαυμάζειν, πάντες εί ούτως
έχει (Metaphysik Α, 983 a 12-13; „Denn es beginnen, wie gesagt, alle mit der
Verwunderung (thaumäzein) darüber, ob sich etwas wirklich so verhält").
Abgesehen von der verfälschenden Konstruktion, die den Gegensatz von
deutscher und antiker Philosophie demonstrieren soll, beachtet N. auch nicht
die semantische Differenz zwischen „mirari" und „admirari" in der Losung „nil