312 Morgenröthe
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210, 14 Sich irren wollen.] Der am Schluss dieses Textes genannte
Wunsch, „sich [...] überlegen fühlen zu können", korrespondiert dem zu den
Hauptthemen der Morgenröthe gehörenden Bedürfnis nach einem „Gefühl der
Macht" (vgl. hierzu besonders Μ 65 und Μ 348 sowie den Überblickskommen-
tar S. 30 f. und S. 42). In Μ 201 (175, 27-176, 5) setzt N. dieses „Gefühl der
Macht" ausdrücklich mit dem Gefühl der „Überlegenheit" gleich, das er den
„freien Geistern" zuschreibt.
265
210, 18 Das Theater hat seine Zeit.] Erneut folgt N. seiner auch in ande-
ren Texten der Morgenröthe erkennbaren Tendenz, alles zu historisieren: hier
das Theater, dessen große Bedeutung für das Kulturleben des 19. Jahrhunderts
er nicht zuletzt im Hinblick auf das äußerst erfolgreiche Musiktheater Richard
Wagners als spätzeitliches - später wird er sagen: dekadentes - Phänomen
diagnostiziert. Um das Theater als lediglich spätzeitliches „Ersatzstück" (210,
21) einer ursprünglichen, authentischen Phantasiebegabung typisieren zu kön-
nen, versucht N. das griechische Theaterwesen zeitlich gegen die epischen
Rhapsoden abzusetzen: gegen die Sänger, welche an Fürstenhöfen epische
Dichtungen vortrugen wie im Falle von Homers Ilias und Odyssee. Homer
selbst gibt in der Odyssee eine Vorstellung von einem solchen Rhapsoden, in-
dem er den Auftritt des Sängers Demodokos am Hof des Phäakenkönigs dar-
stellt. Abgesehen von dem fragwürdigen Dekadenzschema, mit dem N. das
Theater als eine erst später entstandene Kunstform abzuwerten sucht, ist seine
zeitliche Unterscheidung zwischen einer phantasiebegabten griechischen
Frühzeit mit ihren epischen Rhapsoden und der späteren Theaterkultur proble-
matisch, denn die Rhapsoden traten auch noch in späterer Zeit auf, nachdem
im 6. Jahrhundert v. Chr. Peisistratos den Vortrag der homerischen Epen durch
Rhapsoden zu einer festen Institution gemacht hatte. N. revidiert die emphati-
sche Höchstwertung des griechischen Theaters, die er in seiner Erstlingsschrift
noch zum Ausdruck gebracht hatte, weil er Wagner huldigen wollte: Dessen
Musikdrama hatte er als „Wiedergeburt der Tragödie" interpretiert.
266
210, 27 Ohne Anmuth.] Die gleiche kompensatorische Psychologie entwirft
N. schon in M 238, und dort ebenfalls zum Thema ,Anmuth' sowie sogar zu
dem Streben nach „Charakter" aus Mangel und Schwäche. Hier vertieft er die-
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210, 14 Sich irren wollen.] Der am Schluss dieses Textes genannte
Wunsch, „sich [...] überlegen fühlen zu können", korrespondiert dem zu den
Hauptthemen der Morgenröthe gehörenden Bedürfnis nach einem „Gefühl der
Macht" (vgl. hierzu besonders Μ 65 und Μ 348 sowie den Überblickskommen-
tar S. 30 f. und S. 42). In Μ 201 (175, 27-176, 5) setzt N. dieses „Gefühl der
Macht" ausdrücklich mit dem Gefühl der „Überlegenheit" gleich, das er den
„freien Geistern" zuschreibt.
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210, 18 Das Theater hat seine Zeit.] Erneut folgt N. seiner auch in ande-
ren Texten der Morgenröthe erkennbaren Tendenz, alles zu historisieren: hier
das Theater, dessen große Bedeutung für das Kulturleben des 19. Jahrhunderts
er nicht zuletzt im Hinblick auf das äußerst erfolgreiche Musiktheater Richard
Wagners als spätzeitliches - später wird er sagen: dekadentes - Phänomen
diagnostiziert. Um das Theater als lediglich spätzeitliches „Ersatzstück" (210,
21) einer ursprünglichen, authentischen Phantasiebegabung typisieren zu kön-
nen, versucht N. das griechische Theaterwesen zeitlich gegen die epischen
Rhapsoden abzusetzen: gegen die Sänger, welche an Fürstenhöfen epische
Dichtungen vortrugen wie im Falle von Homers Ilias und Odyssee. Homer
selbst gibt in der Odyssee eine Vorstellung von einem solchen Rhapsoden, in-
dem er den Auftritt des Sängers Demodokos am Hof des Phäakenkönigs dar-
stellt. Abgesehen von dem fragwürdigen Dekadenzschema, mit dem N. das
Theater als eine erst später entstandene Kunstform abzuwerten sucht, ist seine
zeitliche Unterscheidung zwischen einer phantasiebegabten griechischen
Frühzeit mit ihren epischen Rhapsoden und der späteren Theaterkultur proble-
matisch, denn die Rhapsoden traten auch noch in späterer Zeit auf, nachdem
im 6. Jahrhundert v. Chr. Peisistratos den Vortrag der homerischen Epen durch
Rhapsoden zu einer festen Institution gemacht hatte. N. revidiert die emphati-
sche Höchstwertung des griechischen Theaters, die er in seiner Erstlingsschrift
noch zum Ausdruck gebracht hatte, weil er Wagner huldigen wollte: Dessen
Musikdrama hatte er als „Wiedergeburt der Tragödie" interpretiert.
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210, 27 Ohne Anmuth.] Die gleiche kompensatorische Psychologie entwirft
N. schon in M 238, und dort ebenfalls zum Thema ,Anmuth' sowie sogar zu
dem Streben nach „Charakter" aus Mangel und Schwäche. Hier vertieft er die-