Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 210-211 313
sen Ansatz historisch, indem er sich an Erscheinungsformen des antiken Kynis-
mus orientiert. Die Kyniker trugen ein besonders strenges Autarkie-Ideal zur
Schau, indem sie alle äußeren Bedürfnisse minimierten, harte Askese vorführ-
ten und sich, wie N. schreibt, zu „derben Possen" verstanden, um ihre „Verach-
tung der feineren Lebensart" zu demonstrieren. Im Besonderen denkt N. an die
Leitfigur der Kyniker, an Diogenes von Sinope, dessen „Possen" in zahlreichen
Anekdoten kursierten. Einer dieser Anekdoten zufolge ging er am hellichten
Tage mit einer Laterne durch die Stadt und antwortete auf verwunderte Fragen:
er suche Menschen (Diogenes Laertius VI 41) - darauf spielt N. an, indem er
vom „angenommenen" (d. h. geschauspielerten) „Misstrauen gegen die Men-
schen" spricht. Eine andere anekdotisch überlieferte „Posse" des Diogenes, der
sich mit einer Tonne als Unterkunft begnügte, ist eine Szene mit Alexander
dem Großen: Als dieser ihm einen Wunsch freistellte, antwortete Diogenes, er
solle ihm aus der Sonne gehen (Plutarch: Alexander 14). Erst am Ende dieses
Kurztextes nennt N. explizit die „cynische Philosophie" (211, 3).
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211, 6 Warum so stolz!] Der Stolz erscheint in dieser Argumentation als
nicht angebracht, weil der „Charakter", auf den der Edle stolz sein möchte,
auf einer „zufälligen" Selektion vererbter oder anerzogener Eigenschaften und
Dispositionen beruht, wie aus der Formulierung hervorgeht, wonach ihm die
entgegengesetzten Eigenschaften „zufällig nicht vererbt und nicht anerzogen"
wurden (211, 9). Der Hintergrund ist Darwin (zum Problem des von N. missver-
standenen „Zufalls" bei Darwin vgl. NK M 122). Mit dem Problem der Vererbbar-
keit setzte sich N. mehrmals auseinander. In M 30 beschäftigt er sich etwa
mit der Frage, ob „Grausamkeit" vererbt wird und schreibt: „Denn wenn die
Gewohnheit irgend eines auszeichnenden Thuns sich vererbt, wird doch der
Hintergedanke nicht mit vererbt (nur Gefühle, aber keine Gedanken erben sich
fort): und vorausgesetzt, dass er nicht durch die Erziehung wieder dahinterge-
schoben wird, giebt es in der zweiten Generation schon keine Lust der Grau-
samkeit mehr dabei: sondern Lust allein an der Gewohnheit als solcher" (40,
27-33).
268
211, 12 Scylla und Charybdis des Redners.] In Homers Odyssee sind
Scylla und Charybdis Meeresungeheuer, welche in der Meerenge von Messina
die Schiffer von beiden Seiten her bedrohen. Als Odysseus mit seinen Gefähr-
sen Ansatz historisch, indem er sich an Erscheinungsformen des antiken Kynis-
mus orientiert. Die Kyniker trugen ein besonders strenges Autarkie-Ideal zur
Schau, indem sie alle äußeren Bedürfnisse minimierten, harte Askese vorführ-
ten und sich, wie N. schreibt, zu „derben Possen" verstanden, um ihre „Verach-
tung der feineren Lebensart" zu demonstrieren. Im Besonderen denkt N. an die
Leitfigur der Kyniker, an Diogenes von Sinope, dessen „Possen" in zahlreichen
Anekdoten kursierten. Einer dieser Anekdoten zufolge ging er am hellichten
Tage mit einer Laterne durch die Stadt und antwortete auf verwunderte Fragen:
er suche Menschen (Diogenes Laertius VI 41) - darauf spielt N. an, indem er
vom „angenommenen" (d. h. geschauspielerten) „Misstrauen gegen die Men-
schen" spricht. Eine andere anekdotisch überlieferte „Posse" des Diogenes, der
sich mit einer Tonne als Unterkunft begnügte, ist eine Szene mit Alexander
dem Großen: Als dieser ihm einen Wunsch freistellte, antwortete Diogenes, er
solle ihm aus der Sonne gehen (Plutarch: Alexander 14). Erst am Ende dieses
Kurztextes nennt N. explizit die „cynische Philosophie" (211, 3).
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211, 6 Warum so stolz!] Der Stolz erscheint in dieser Argumentation als
nicht angebracht, weil der „Charakter", auf den der Edle stolz sein möchte,
auf einer „zufälligen" Selektion vererbter oder anerzogener Eigenschaften und
Dispositionen beruht, wie aus der Formulierung hervorgeht, wonach ihm die
entgegengesetzten Eigenschaften „zufällig nicht vererbt und nicht anerzogen"
wurden (211, 9). Der Hintergrund ist Darwin (zum Problem des von N. missver-
standenen „Zufalls" bei Darwin vgl. NK M 122). Mit dem Problem der Vererbbar-
keit setzte sich N. mehrmals auseinander. In M 30 beschäftigt er sich etwa
mit der Frage, ob „Grausamkeit" vererbt wird und schreibt: „Denn wenn die
Gewohnheit irgend eines auszeichnenden Thuns sich vererbt, wird doch der
Hintergedanke nicht mit vererbt (nur Gefühle, aber keine Gedanken erben sich
fort): und vorausgesetzt, dass er nicht durch die Erziehung wieder dahinterge-
schoben wird, giebt es in der zweiten Generation schon keine Lust der Grau-
samkeit mehr dabei: sondern Lust allein an der Gewohnheit als solcher" (40,
27-33).
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211, 12 Scylla und Charybdis des Redners.] In Homers Odyssee sind
Scylla und Charybdis Meeresungeheuer, welche in der Meerenge von Messina
die Schiffer von beiden Seiten her bedrohen. Als Odysseus mit seinen Gefähr-