314 Morgenröthe
ten die Meerenge durchfährt, entgeht er im Strudel der Charybdis nur knapp
dem Untergang, nachdem schon Scylla, ein Ungeheuer mit sechs Köpfen, seine
Schiffsmannschaft tödlich attackiert hat. Aus diesem Abenteuer der Odyssee
entstand die Redensart „zwischen Scylla und Charybdis" für eine Situation, in
der man von zwei Übeln zugleich bedroht ist.
269
211, 18 Die Kranken und die Kunst.] Auch aufgrund seiner eigenen
Krankheitserfahrungen hatte N. ein starkes und in den späten Schriften noch
intensiviertes Interesse für Krankheiten, psychische Gefährdungen und krank-
machende Lebensbedingungen. Deshalb war er immer auf der Suche nach ei-
ner bekömmlichen „Diät", wie viele seiner Briefe zeigen; und seit langem war
bekannt, dass „körperliche Arbeit" ein wirksames Mittel gegen „Seelen-Elend"
ist, insbesondere gegen Melancholie („Trübsal"), die geradezu als Krankheit
der Gelehrten: als „morbus litteratorum" galt. Ganz anders aber war traditio-
nell die Einschätzung der Musik; denn N. meint hier wie auch sonst meistens,
wenn er von „Kunst" spricht, die Musik, vor allem diejenige Wagners, die er
als „Mittel der Berauschung" begreift. Während die Musik in älterer Zeit als
Seelentrost und Therapeutikum galt, sieht N. speziell in Wagners Musik ein
nervenzerrüttendes Reiz- und Rauschmittel, nach welchem er in seiner Früh-
phase selbst noch ,süchtig' war und gegen das er später umso vehementer
ankämpfte. Im vorliegenden Text, der Krankheit und Kunst in engen Zusam-
menhang bringt, kündigt sich bereits die Krankheits- und Decadence-Diagnose
der späten Anti-Wagner-Schriften an. Vgl. NK 6/1, 67, 18 und 71, 14.
270
211, 26 Anscheinende Toleranz.] In FW 123 vertieft N. die Diagnose einer
unaufhebbaren Kluft: Die Einstellung in der Sphäre von Praxis und Politik
bleibt trotz der bezeigten „Toleranz" immer von einem inneren Unverständnis
für die Wissenschaft bestimmt. Der vorliegende Text gilt der wohlwollenden,
aber nicht auf wirklicher Kenntnis und Hochschätzung beruhenden Haltung
gegenüber der Wissenschaft, vor allem pointiert er die „Sehnsucht der Erkennt-
niss" (212, 13), die den Praktikern und Politikern nicht nachvollziehbar ist. In
FW 123 betont N. schon in der Überschrift, dass die „Erkenntniss mehr,
als ein Mittel" ist, und spricht von der „Leidenschaft der Erkenntniss"
(479, 2-4). Dass er am Ende des hier zu erörternden Textes ausruft: „Und was
liegt an uns!", nämlich an denen, die für Wissenschaft und Erkenntnis leben,
ten die Meerenge durchfährt, entgeht er im Strudel der Charybdis nur knapp
dem Untergang, nachdem schon Scylla, ein Ungeheuer mit sechs Köpfen, seine
Schiffsmannschaft tödlich attackiert hat. Aus diesem Abenteuer der Odyssee
entstand die Redensart „zwischen Scylla und Charybdis" für eine Situation, in
der man von zwei Übeln zugleich bedroht ist.
269
211, 18 Die Kranken und die Kunst.] Auch aufgrund seiner eigenen
Krankheitserfahrungen hatte N. ein starkes und in den späten Schriften noch
intensiviertes Interesse für Krankheiten, psychische Gefährdungen und krank-
machende Lebensbedingungen. Deshalb war er immer auf der Suche nach ei-
ner bekömmlichen „Diät", wie viele seiner Briefe zeigen; und seit langem war
bekannt, dass „körperliche Arbeit" ein wirksames Mittel gegen „Seelen-Elend"
ist, insbesondere gegen Melancholie („Trübsal"), die geradezu als Krankheit
der Gelehrten: als „morbus litteratorum" galt. Ganz anders aber war traditio-
nell die Einschätzung der Musik; denn N. meint hier wie auch sonst meistens,
wenn er von „Kunst" spricht, die Musik, vor allem diejenige Wagners, die er
als „Mittel der Berauschung" begreift. Während die Musik in älterer Zeit als
Seelentrost und Therapeutikum galt, sieht N. speziell in Wagners Musik ein
nervenzerrüttendes Reiz- und Rauschmittel, nach welchem er in seiner Früh-
phase selbst noch ,süchtig' war und gegen das er später umso vehementer
ankämpfte. Im vorliegenden Text, der Krankheit und Kunst in engen Zusam-
menhang bringt, kündigt sich bereits die Krankheits- und Decadence-Diagnose
der späten Anti-Wagner-Schriften an. Vgl. NK 6/1, 67, 18 und 71, 14.
270
211, 26 Anscheinende Toleranz.] In FW 123 vertieft N. die Diagnose einer
unaufhebbaren Kluft: Die Einstellung in der Sphäre von Praxis und Politik
bleibt trotz der bezeigten „Toleranz" immer von einem inneren Unverständnis
für die Wissenschaft bestimmt. Der vorliegende Text gilt der wohlwollenden,
aber nicht auf wirklicher Kenntnis und Hochschätzung beruhenden Haltung
gegenüber der Wissenschaft, vor allem pointiert er die „Sehnsucht der Erkennt-
niss" (212, 13), die den Praktikern und Politikern nicht nachvollziehbar ist. In
FW 123 betont N. schon in der Überschrift, dass die „Erkenntniss mehr,
als ein Mittel" ist, und spricht von der „Leidenschaft der Erkenntniss"
(479, 2-4). Dass er am Ende des hier zu erörternden Textes ausruft: „Und was
liegt an uns!", nämlich an denen, die für Wissenschaft und Erkenntnis leben,