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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0332
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Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 213 317

Durch die epochemachenden Veröffentlichungen Darwins, insbesondere
durch sein Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the
Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859), erhielten die Be-
griffe „Species" und „Race" eine fundamental biologische Qualität. Die vom
sog. ,Darwinismus' vollzogene Übertragung dieser Begriffe auf geschichtliche
und sogar aktuelle Konstellationen war allerdings schon insofern verfehlt, als
Darwin die biologische Evolution in Zeiträumen wahrnahm, die weit über die
relativ kurze Spanne der Menschheitsgeschichte hinausreichen; vor allem
aber, weil die gesellschaftlichen, technischen, ökonomischen und politischen
Prozesse die biologisch-evolutionären ganz in den Hintergrund des im eigentli-
chen Sinne nicht mehr ,geschichtlich' Relevanten treten lassen.
Anders verhielt es sich mit den Züchtungstheorien, von denen Darwin in
seinem anderen großen Werk: The Descent of Man, and Selection in Relation to
Sex (1871) ausging; denn sie beruhten nicht bloß auf evolutionären Langzeit-
Prozessen, sondern auch auf modernen Methoden der Züchtung von Pflanzen
und Tieren. Daher vertrat u. a. der damals vielgelesene Erfolgsautor Ernst Hae-
ckel eine optimistische Theorie, der zufolge durch natürliche Züchtung eine
Rasse-Veredlung und damit eine Höherentwicklung der Menschheit möglich
sei. Auf der Grundlage solcher Annahmen kommt N. im hier zu erörternden
Text zu seiner Leitthese von der „Reinigung der Rasse". Er geht also
nicht, wie die nationalistische Rassenideologie, von der Fiktion einer schon
vorhandenen reinen Rasse aus, die es zu erhalten gelte, sondern von der Aus-
sicht auf eine nur unter verschiedenen, erst noch zu schaffenden Bedingungen
zustandekommende „Reinigung" der Rasse. Das Resultat dieses hypotheti-
schen Reinigungs-Prozesses sei eine „schöner" und „stärker" (214, 8) ge-
wordene Rasse. Unklar bleibt aber, was hier unter ,Reinheit' zu verstehen ist.
Auf diese Problematik geht N. in der Genealogie der Moral ein (KSA 5, 264,
27-265, 8). Im vorliegenden Text spricht er nur von „zahllosen Anpassungen,
Einsaugungen und Ausscheidungen" (213, 29 f.) (Darwins „Selection"), die zu
diesem Resultat führen sollen. Doch hebt er auch hervor, dass es sich zugleich
um eine Beschränkung auf ausgewählte, also durch Selektion zustande kom-
mende Funktionen handeln müsse; es gehe darum, „dass die in einer Rasse
vorhandene Kraft sich immer mehr auf einzelne ausgewählte Functionen be-
schränkt" (213, 30-32).
Hier liegt der Ansatzpunkt für die in N.s späteren Schriften stark hervortre-
tende Vorstellung einer gezielten „Züchtung". Das Ziel dieser „Züchtung" zu
bestimmen, nimmt sich der Philosoph heraus, dem es von Anfang an um anti-
sozial und antidemokratisch definierte Privilegien geht (KSA 1, 769, 20-24).
Diese Privilegierung - eine problematische Übertragung des biologischen Se-
lektionsvorgangs auf die gesellschaftliche Ebene - projiziert N. in den späteren
 
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