316 Morgenröthe
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213, 18 Die Reinigung der Rasse.) Die „Rasse" war nach der ersten Be-
gründung von Rassetheorien im 18. Jahrhundert (Buffon, Voltaire, Kant, Mei-
ners) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein brisantes Thema geworden,
vor allem im Zusammenhang mit antisemitischen Rassenlehren, welche die
Überlegenheit der arischen Rasse behaupteten, aber auch im Zusammenhang
mit nationalistischen Vorstellungen, die „Volk" und „Rasse" ineins zu setzen
suchten. Von den Werken, die N. kennenlernte, hat dasjenige des Grafen Gobi-
neau über Jahrzehnte hinaus außerordentlich stark gewirkt: Joseph Arthur de
Gobineau: Essai sur l'inegalite des races humaines (,Versuch über die Ungleich-
heit der Rassen', 1853/55). Trotz mancher Vorläufer ist Gobineaus ,Rasse'-Be-
griff besonders wirkungsmächtig gewesen. Es handelt sich um eine einseitige
Reduktion auf ein bewegendes Prinzip der Geschichte wie etwa gleichzeitig
,Klasse' oder ,Klassenkampf'; Geschichte vollzieht sich für Gobineau in (Ras-
sen-)Kämpfen, in denen die vermeintlich überlegene weiße Rasse über die an-
deren Rassen siegt. Wesentlich für sein Geschichtsverständnis ist die Annah-
me, dass es durch die Vermischung einer ursprünglich reinen Rasse mit ande-
ren Rassen zu einer „degeneration" komme. Zwar gebe es in der Realität nicht
mehr den Idealtypus der reinen Rasse, aber entscheidend sei, wie weit die
schon seit alter Zeit stattfindende Rassenmischung und damit die „Degenerati-
on" fortgeschritten sei. Da sie unaufhaltsam weiter fortschreite, ist Gobineau
fatalistisch und pessimistisch. Als Spross eines alten Adelsgeschlechts ver-
sucht er seine Titelthese von der „Ungleichheit der Rassen" („l'inegalite des
races humaines") auf den Adel als die noch ursprünglich reinrassige Form und
folglich von Natur aus überlegene Menschenart zu perspektivieren - ein kom-
pensatorischer Reflex auf den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Adels.
N. war durch Wagner mit Gobineau bekannt geworden, durch Wagner war
er auch in seinem schon früh ausgeprägten rassistischen Antisemitismus be-
stärkt worden. Vgl. die einschlägigen Briefzitate im Kommentar zur Geburt der
Tragödie (NK KSA 1, 68, 34-69, 8). In der Zeit der Morgenröthe rückte er davon
ab, wie besonders deutlich M 205: „Vom Volke Israel" zeigt. Zu den Grün-
den hierfür zählt nicht nur die inzwischen vollzogene Abwendung von Wag-
ner, sondern auch die Konfrontation mit einem primitiven, nationalistisch ge-
färbten Antisemitismus sowie die Freundschaft mit Paul Ree, dem er Wesentli-
ches auch für die Morgenröthe verdankte - Ree war jüdischer Herkunft.
Allerdings lässt sich feststellen, dass der mit der Morgenröthe beginnende und
sich bis zum Spätwerk verschärfende Kampf gegen das Christentum den antise-
mitischen Affekt in anderer Weise fortschreibt, da N. immer wieder zu verste-
hen gibt, dass das Christentum mit dem Judentum eng zusammenhängt (vgl.
besonders GM, KSA 5, 267, 8-270, 3).
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213, 18 Die Reinigung der Rasse.) Die „Rasse" war nach der ersten Be-
gründung von Rassetheorien im 18. Jahrhundert (Buffon, Voltaire, Kant, Mei-
ners) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein brisantes Thema geworden,
vor allem im Zusammenhang mit antisemitischen Rassenlehren, welche die
Überlegenheit der arischen Rasse behaupteten, aber auch im Zusammenhang
mit nationalistischen Vorstellungen, die „Volk" und „Rasse" ineins zu setzen
suchten. Von den Werken, die N. kennenlernte, hat dasjenige des Grafen Gobi-
neau über Jahrzehnte hinaus außerordentlich stark gewirkt: Joseph Arthur de
Gobineau: Essai sur l'inegalite des races humaines (,Versuch über die Ungleich-
heit der Rassen', 1853/55). Trotz mancher Vorläufer ist Gobineaus ,Rasse'-Be-
griff besonders wirkungsmächtig gewesen. Es handelt sich um eine einseitige
Reduktion auf ein bewegendes Prinzip der Geschichte wie etwa gleichzeitig
,Klasse' oder ,Klassenkampf'; Geschichte vollzieht sich für Gobineau in (Ras-
sen-)Kämpfen, in denen die vermeintlich überlegene weiße Rasse über die an-
deren Rassen siegt. Wesentlich für sein Geschichtsverständnis ist die Annah-
me, dass es durch die Vermischung einer ursprünglich reinen Rasse mit ande-
ren Rassen zu einer „degeneration" komme. Zwar gebe es in der Realität nicht
mehr den Idealtypus der reinen Rasse, aber entscheidend sei, wie weit die
schon seit alter Zeit stattfindende Rassenmischung und damit die „Degenerati-
on" fortgeschritten sei. Da sie unaufhaltsam weiter fortschreite, ist Gobineau
fatalistisch und pessimistisch. Als Spross eines alten Adelsgeschlechts ver-
sucht er seine Titelthese von der „Ungleichheit der Rassen" („l'inegalite des
races humaines") auf den Adel als die noch ursprünglich reinrassige Form und
folglich von Natur aus überlegene Menschenart zu perspektivieren - ein kom-
pensatorischer Reflex auf den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Adels.
N. war durch Wagner mit Gobineau bekannt geworden, durch Wagner war
er auch in seinem schon früh ausgeprägten rassistischen Antisemitismus be-
stärkt worden. Vgl. die einschlägigen Briefzitate im Kommentar zur Geburt der
Tragödie (NK KSA 1, 68, 34-69, 8). In der Zeit der Morgenröthe rückte er davon
ab, wie besonders deutlich M 205: „Vom Volke Israel" zeigt. Zu den Grün-
den hierfür zählt nicht nur die inzwischen vollzogene Abwendung von Wag-
ner, sondern auch die Konfrontation mit einem primitiven, nationalistisch ge-
färbten Antisemitismus sowie die Freundschaft mit Paul Ree, dem er Wesentli-
ches auch für die Morgenröthe verdankte - Ree war jüdischer Herkunft.
Allerdings lässt sich feststellen, dass der mit der Morgenröthe beginnende und
sich bis zum Spätwerk verschärfende Kampf gegen das Christentum den antise-
mitischen Affekt in anderer Weise fortschreibt, da N. immer wieder zu verste-
hen gibt, dass das Christentum mit dem Judentum eng zusammenhängt (vgl.
besonders GM, KSA 5, 267, 8-270, 3).