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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0345
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330 Morgenröthe

es: „Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft
zum Vernichten gemäss ist, - in Beidem gehorche ich meiner dionysischen
Natur, welche das Neinthun nicht vom Jasagen zu trennen weiss. Ich bin der
erste Immoralist: damit bin ich der Vernichter par excellence" (KSA 6,
366, 29-33). In seinem Nachlass befinden sich Listen über alles - und es ist in
der Tat fast alles -, was er „vernichten" will (vgl. NL 1884, 25[211], KSA 11, 60).
Im vorliegenden Text wird die Tendenz zur Vernichtung allerdings noch kri-
tisch gesehen. Die Aussagen zielen auf den pessimistischen Nihilismus Scho-
penhauers, der das Ideal der Willens- und damit der Lebensverneinung aufge-
stellt hatte (vgl. WWV I, 4. Buch, Schopenhauer 1873, Bd. 1). Dieses wird hier
von N. auf den Neid zurückgeführt.
305
224,9 Geiz.] Wie Eitelkeit, Heuchelei, Schmeichelei, Neid (vgl. M 304) gehört
auch der Geiz zum moralistischen Spektrum. N. lehnt den Geiz ab, weil er der
von ihm wiederholt (vgl. M 315) propagierten „Grossmuth" widerspricht.
306
224, 14 Griechisches Ideal.] Wie auch sonst oft paradigmatisiert N. hier
eine einzelne Figur, den Seefahrer Odysseus, die Hauptgestalt in Homers Odys-
see; und er generalisiert auf problematische Weise die dem Odysseus zuge-
schriebenen Eigenschaften mit dem Satz: „diess Alles ist griechisches Ideal"
(224, 21). Dass es „vor Allem die Fähigkeit zur Lüge und zur listigen und furcht-
baren Wiedervergeltung" (224, 15 f.) sei, welche die Griechen als ihr Ideal be-
wunderten, lässt sich aus dem Geschehen der Odyssee nicht als dominanter
Charakterzug des Odysseus erschließen. Als typisierbarer Charakterzug er-
scheint nicht die „Lüge", sondern nur seine besondere Fähigkeit zur List. Auch
die „furchtbare Wiedervergeltung" ist kein typisierbarer und idealisierbarer
Zug des Odysseus - sie lässt sich nur in einer einzigen Szene erkennen: als
Odysseus nach seiner Heimkehr die Freier bestraft, die seine Güter verprassen,
seine Gemahlin Penelope bedrängen und seinem Sohn Telemach nach dem
Leben trachten. Bezeichnenderweise geht N. auf einen für das Gesamtgesche-
hen der Odyssee maßgebenden Grundzug des Odysseus nicht ein: auf seine
unbeirrbare, durch alle Gefahren und Abenteuer leitende Sehnsucht nach der
Heimat, nach seiner Frau Penelope und seinem Sohn Telemach. Beide musste
er verlassen, als er in den Trojanischen Krieg zog.
N. erwähnt auch nicht, dass sich die Odysseus-Gestalt in nachhomerischer
Zeit einschwärzte. Dass sie keineswegs als „griechisches Ideal" gelten konnte,
 
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