Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 224 331
geht aus der Philoktet-Tragödie des Sophokles hervor, die N. kannte (vgl. 229,
23-25). Darin erscheint Odysseus als kaltblütiger Betrüger, als ein Schuft, der
durchaus ,moralisch' abgewertet wird. N. aber versucht, aufgrund seines im-
moralistischen Gesamtkonzepts Beispiele zu finden, die demonstrieren sollen,
dass die Griechen das Verhalten von Menschen „nicht sittlich angerechnet"
haben (224, 23). Diese Beispiele sollen sein Konzept bestätigen. Die generalisie-
rende Konstruktion eines „griechischen Ideals" muss vor allem daran schei-
tern, dass die Griechen gerade in den Gipfelzeiten ihrer Philosophie ein ganz
anderes als das von N. imaginierte „griechische Ideal" hatten - in der Figur
des Sokrates. Dieser erscheint bei Platon und in den sokratischen Schulen ge-
rade auch aufgrund seines Ethos und seiner ethischen Lehren als vorbildlich.
Später versucht N. aufgrund der sich hieraus für ihn ergebenden Schwierigkei-
ten Platon als „pseudogriechisch", ja als „antigriechisch" zu etikettieren (GD,
KSA 6, 68, 2f.).
307
224, 26 Facta! Ja Facta ficta!] Zunächst enthält diese Formulierung des
Themas einen Zweifel an der Berufung auf „Fakten". Sie war in der zeitgenössi-
schen Popularphilosophie weit verbreitet und sollte die Abkehr von der Speku-
lation, von der Metaphysik und vom Supranaturalismus zugunsten einer an
den Fakten und an exakten Daten orientierten Empirie signalisieren. So hatte
Ludwig Büchner dem Vorwort zu seinem internationalen Bestseller Kraft und
Stoff (1. Auflage 1855, 14. deutsche Auflage 1876) folgendes Motto vorangestellt:
„Now what I want, is - facts. Boz", und er erklärte: „Der endliche Sieg dieser
real-philosophischen Erkenntniß über ihre Gegner scheint uns nicht zweifel-
haft zu sein. Die Kraft ihrer Beweise besteht in Thatsachen [...] gegen That-
sachen aber läßt sich auf die Dauer nicht ankämpfen" (Büchner 1876, XIV u.
XV f.).
Mit seinem Leitspruch („Tatsachen! Ja, fingierte Tatsachen!") greift N. auch
das Thema der Geschichtsschreibung wieder auf, in der sich das Problem des
Umgangs mit „Fakten" in ganz anderer Weise stellt als in den Naturwissen-
schaften und in einer von diesen hergeleiteten naturalistischen und ,realisti-
schen' Philosophie. Ausführlich hatte N. davon in der zweiten der Unzeitgemä-
ßen Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben gehan-
delt, allerdings in gegenläufiger Perspektive. Dort statuierte er noch, dass gute
Geschichtsschreibung „eine grosse künstlerische Potenz, ein schaffendes Darü-
berschweben [...] ein Weiterdichten an gegebenen Typen" erfordere (KSA 1,
292, 25-27), ja dass sie zum „Kunstwerk umgebildet" werden solle (KSA 1, 296,
19). Im vorliegenden Text kehrt er nicht nur die Perspektive, sondern auch die
geht aus der Philoktet-Tragödie des Sophokles hervor, die N. kannte (vgl. 229,
23-25). Darin erscheint Odysseus als kaltblütiger Betrüger, als ein Schuft, der
durchaus ,moralisch' abgewertet wird. N. aber versucht, aufgrund seines im-
moralistischen Gesamtkonzepts Beispiele zu finden, die demonstrieren sollen,
dass die Griechen das Verhalten von Menschen „nicht sittlich angerechnet"
haben (224, 23). Diese Beispiele sollen sein Konzept bestätigen. Die generalisie-
rende Konstruktion eines „griechischen Ideals" muss vor allem daran schei-
tern, dass die Griechen gerade in den Gipfelzeiten ihrer Philosophie ein ganz
anderes als das von N. imaginierte „griechische Ideal" hatten - in der Figur
des Sokrates. Dieser erscheint bei Platon und in den sokratischen Schulen ge-
rade auch aufgrund seines Ethos und seiner ethischen Lehren als vorbildlich.
Später versucht N. aufgrund der sich hieraus für ihn ergebenden Schwierigkei-
ten Platon als „pseudogriechisch", ja als „antigriechisch" zu etikettieren (GD,
KSA 6, 68, 2f.).
307
224, 26 Facta! Ja Facta ficta!] Zunächst enthält diese Formulierung des
Themas einen Zweifel an der Berufung auf „Fakten". Sie war in der zeitgenössi-
schen Popularphilosophie weit verbreitet und sollte die Abkehr von der Speku-
lation, von der Metaphysik und vom Supranaturalismus zugunsten einer an
den Fakten und an exakten Daten orientierten Empirie signalisieren. So hatte
Ludwig Büchner dem Vorwort zu seinem internationalen Bestseller Kraft und
Stoff (1. Auflage 1855, 14. deutsche Auflage 1876) folgendes Motto vorangestellt:
„Now what I want, is - facts. Boz", und er erklärte: „Der endliche Sieg dieser
real-philosophischen Erkenntniß über ihre Gegner scheint uns nicht zweifel-
haft zu sein. Die Kraft ihrer Beweise besteht in Thatsachen [...] gegen That-
sachen aber läßt sich auf die Dauer nicht ankämpfen" (Büchner 1876, XIV u.
XV f.).
Mit seinem Leitspruch („Tatsachen! Ja, fingierte Tatsachen!") greift N. auch
das Thema der Geschichtsschreibung wieder auf, in der sich das Problem des
Umgangs mit „Fakten" in ganz anderer Weise stellt als in den Naturwissen-
schaften und in einer von diesen hergeleiteten naturalistischen und ,realisti-
schen' Philosophie. Ausführlich hatte N. davon in der zweiten der Unzeitgemä-
ßen Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben gehan-
delt, allerdings in gegenläufiger Perspektive. Dort statuierte er noch, dass gute
Geschichtsschreibung „eine grosse künstlerische Potenz, ein schaffendes Darü-
berschweben [...] ein Weiterdichten an gegebenen Typen" erfordere (KSA 1,
292, 25-27), ja dass sie zum „Kunstwerk umgebildet" werden solle (KSA 1, 296,
19). Im vorliegenden Text kehrt er nicht nur die Perspektive, sondern auch die