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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0381
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366 Morgenröthe

wendet die Frage nach der Wahrheit ins Subjektive und macht sie zu einer
Sache der Perspektive, indem er psychologisch verschiedene Typen unterschei-
det, aus deren Interessenlage die Formen der „Wahrheit" resultieren und daher
jede übergreifende orientierungstiftende Funktion verlieren. Analog hierzu be-
streitet er im Gesamtduktus der Morgenröthe die Allgemeinverbindlichkeit der
„Moral" durch deren Historisierung und Psychologisierung. Die wissenschaftli-
che Suche nach der „Wahrheit als Ganzes" (260, 27) schreibt N. Aristoteles
zu, weil er eine „mächtige" d. h. universal und enzyklopädisch ausgreifende
„Seele" gehabt habe, die - in ihrem Erkenntnisoptimismus robust und zugleich
„harmlos" - am Erkannten, das als solches doch immer nur eine Ansammlung
von Partikularem sein könne, Genüge fand. Er ist für ihn die Verkörperung
des wissenschaftlichen Typus (vgl. 261, 3). Die „anderen", die kranken Seelen,
„suchen Heilmittel für sich" und „nicht die Wahrheit" (260, 31-261, 1).
Damit zielt N. auf das Christentum, das mit seinen religiösen Vorstellungen
zwar (Glaubens-)Wahrheiten vorgebe, aber auf der Grundlage von „Irrthü-
mern", die den kranken Seelen Trost spenden sollen (260, 12). Vgl. Μ 52. Als
Kontrast zu den christlichen Tröstungen, die im Kern Heilsverheißungen für
das Jenseits sind und für das Diesseits auf den Heiligen Geist als „Tröster"
(Paraklet) verweisen, konstatiert er: „die griechischen Götter verstanden nicht
zu trösten" (261, 5 f.). Damit stellt er fest, dass die griechischen Götter in der Tat
kein jenseitiges Heil als Tröstung für die Menschen bereithielten. Allerdings
übergeht er die zwar nicht auf ein Jenseits ausgerichtete, aber doch sehr ausge-
prägte Konsolationsliteratur der Griechen und Römer. Im „Versuch einer Selbst-
kritik", die N. der Neuausgabe seiner Geburt der Tragödie 1886 voranstellte,
hofft er auf eine ,dionysisch' erfüllte Diesseitigkeit, die „irgendwann einmal
alle metaphysische Trösterei zum Teufel schickt - und die Metaphysik voran!"
(KSA 1, 22, 10 f.). Zuvor bezieht er sich auf die romantische Rückwendung zum
Christentum, die er auch an Wagners Parsifal aufgrund der Hinwendung zu
religiösen Tröstungen als ein Symptom krankhafter Dekadenz verstand. Die
gleiche Krankheits- und Dekadenz-Diagnose, die in N.s Spätwerk zu einem auf
alles ausgreifenden Interpretationsmuster wird, zeichnet sich bereits am Ende
von M 424 ab: „als endlich auch die griechischen Menschen allesammt krank
wurden, war diess ein Grund zum Untergang solcher Götter" (261, 6-8).
425
261, 10 Wir Götter in der Verbannung !] Die Überschrift spielt auf einen
Prosatext Heinrich Heines an, der zuerst 1853 auf Französisch in der angesehe-
nen Revue des Deux Mondes unter dem Titel Les dieux en exil erschien, dann
ebenfalls 1853 unter dem Titel Die Götter im Elend in den vielgelesenen Blättern
 
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