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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0451
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436 Morgenröthe

welcher seinen Ursprung nicht in der Erscheinung, nicht in bloßer an-
schaulicher Vorstellung hat, sondern aus dem Innern kommt, aus dem unmit-
telbarsten Bewußtseyn eines jeden hervorgeht [...]" (WWV I, Zweites Buch, § 22,
Schopenhauer 1873, Bd. 2, 133). Gegen diese noch von Kants Unterscheidung
von „Ding an sich" und „Erscheinung" ausgehende Konzeption wendet sich
die spätere monistische Auffassung.
Dass N. in Μ 548 der Verehrung der bloßen „Kraft" eine Absage erteilt,
passt nicht recht zum Kontext. Denn zahlreiche Ausführungen der Morgenröthe
und viele nachgelassene Notate favorisieren das „Gefühl der Macht", das
schließlich in das Grundkonzept des „Willens zur Macht" übergeht. Spätere
Notate setzen ausdrücklich „Kraft" und „Wille zur Macht" gleich (NL 1885,
36[31], KSA 11, 563; NL 1888, 14[121], KSA 13, 300). In einem Randnotat zu dem
später intensiv durchgearbeiteten Werk von Maximilian Drossbach: Ueber die
scheinbaren und die wirklichen Ursachen des Geschehens in der Welt transpo-
niert N. den Begriff der „Kraft" in den der „Macht" (vgl. das Faksimile in NPB
200). Den dort S. 45 stehenden Satz: „Man hat erst dann den rechten Begriff
von der Kraft, wenn man sie als Streben nach Entfaltung erkennt" (Drossbach
1884, 45), versah N. mit der Randnotiz: „,Wille zur Macht' sage ich". Auch zu
der als Ausdruck des Kraft- und Machtgefühls gepriesenen Lebensintensität
der „Leidenschaft" passt schlecht die Anerkennung der „Kraft" lediglich nach
der Maßgabe der in ihr wirkenden „Vernunft". Zur Hochschätzung nicht nur
der „Leidenschaft der Erkenntnis", sondern der Leidenschaft an sich vgl. Μ
429 und den Überblickskommentar S. 56-60.
Afrikan Spir, der Schopenhauers Zentralbegriff „Wille" als eine falsche
Analogie-Bildung kritisiert, sieht einen Zusammenhang zwischen der Vorstel-
lung der „Kraft" und der diesem ,Willen' zugrunde liegenden naturhaften Ener-
gie. N. markierte sich in Spirs Werk Denken und Wirklichkeit (1877), das er in
seiner persönlichen Bibliothek hatte und besonders schätzte, folgende Partie:
„Daher dürfen wir nicht von Gefühlen, von Vorstellungen und vom Willen
in der Natur reden, denn solchen Ausdrücken können nur falsche Analogie-
schlüsse zu Grunde liegen. Man kann zwar sagen, dass das Intensive und Trei-
bende in dem allgemeinen Princip der Natur, welches man vornehmlich Kraft
nennt, dem Willen in uns, dagegen das Gestaltende und Ordnende, welches
sich in der Gesetzmässigkeit der Dinge und Vorgänge offenbart, der Vernunft
oder dem Denken in uns entspreche. Allein in der Natur ist beides nicht zu
trennen. Das Streben hat dort keine besondere Quelle, wie in uns die Gefühle
eine solche für den Willen bilden, sondern dasselbe ist etwas dem Geschehen
selbst Inhärirendes, gleichsam das Beharrungsvermögen dieses letzteren
selbst. Der Unterschied zwischen dem Treibenden (dem Willen) und dem Ge-
staltenden (der Vorstellung), welchen wir in uns finden, fällt also dort weg"
(Spir 1877, Bd. 2, 162).
 
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