Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0468
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 331 453

in die pluralische Ausdrucksweise hinein um eine Weiterführung von Μ 314.
Darin kommt die Wahrnehmung der zeitgenössischen Freidenker-Bewegung
zum Ausdruck (vgl. den Überblickskommentar S. 23 f. und die Einzelkommen-
tare zu Μ 20 und Μ 314). In deren Zusammenhang stellt sich N. In seiner Versi-
on erscheint das Freigeister- und Freidenkertum nicht als Bewegung auf ein
konkretes Ziel hin, nicht als Freiheit zu etwas, sondern, nach der Befreiung
von religiösen Vorstellungen und „moralischen Vorurtheilen", als ein immer
weiter treibender Drang in eine leere „Unendlichkeit" (331, 30). N. inspirierte
sich am Schlussvers von Giacomo Leopardi's Gedicht L'infinito. Das mit ihm
befreundete Ehepaar Adolphe und Marie Baumgarten hatte ihm zu Weihnach-
ten 1878 eine zweibändige deutsche Leopardi-Übersetzung mit einer Widmung
geschenkt. Im ersten Band steht das Gedicht (ohne Titel) am Beginn der Novel-
le Nerina (Leopardi 1878, I, 3). Das italienische Gedicht trägt den Titel L'infinito
und endet: „Cosi tra questa / Immensitä s'annega il pensier mio; / E il naufra-
gar m'e dolce in questo mare". Heyses Übersetzung: „Und so / Im uferlosen
All versinkt mein Geist, / Und süß ist mir's, in diesem Meer zu scheitern". N.s
Flugmetapher spielt auch auf die romantisch-tragische Unendlichkeitssehn-
sucht an, wie sie u. a. Wagner in seiner Oper Der fliegende Holländer ausgestal-
tete. Mit der Metapher des „Luft-Schifffahrers" assoziiert sich am Ende diejeni-
ge des Seefahrers Kolumbus, der nach „Indien" zu fahren gedachte, als er
nach „Westen" steuerte (331, 28 f.).
Eingebettet in die Figurationen eines entgrenzenden Drangs ins Unendli-
che ist die für N. charakteristische Projektion von „Zukunft" (vgl. den Über-
blickskommentar zum 5. Buch, S. 62-64 [49 ff.]). Wie schon in M 551 über-
nimmt er auch hier wieder die Rolle des prophetischen Dichters, des poeta
vates: mit „Einsicht und Gläubigkeit" (331, 17 f.) blickt er aus der „Höhe" und
„sieht [!] von dort aus in die Ferne, sieht [!] die Schaaren viel mächtigerer Vö-
gel, als wir sind, voraus" (331, 20 f.). Aber es gibt keine positive oder sogar
verheißungsvolle Zukunftsvorstellung. Es dominiert die Ahnung tragischen
Scheiterns (331, 30), die nur durch das zweifache „Oder?" verhalten in Frage
gestellt wird. Diese Reflexion setzt N. in FW 124 verschärfend fort, nunmehr
nicht mit der Metapher des Luft-Schifffahrers, sondern des Seefahrers, vor al-
lem aber nicht mit „Einsicht und Gläubigkeit". Die am Ende der Morgenröthe
noch verlockende Offenheit einer romantisch getönten Unendlichkeit verwan-
delt sich jetzt in die Erkenntnis, „dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unend-
lichkeit" (480, 16). Und abschließend folgt der Ausruf: „Wehe, wenn das Land-
Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre, - und es
giebt kein ,Land' mehr!" (480, 18-20)
In der Mitte des Textes erscheinen zwei Vorstellungen, die dem leitmotivi-
schen „Fliegen" einen fatalen Hintergrund geben: die Vorstellung der „Müdig-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften