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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0467
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452 Morgenröthe

„Fortschritt": er lobe sich „den Vorschritt und die Vorschreitenden, das
heisst Die, welche sich selber immer wieder zurücklassen" (324, 19-21). In Μ
480 spricht er nicht von ,Häutung' und „Fortschritt", sondern von „Umwälzun-
gen" und reflektiert (in entgleisender Syntax) zugleich die Reaktion der Mit-
welt: „Erfahrt die tiefsten Umwälzungen des Gemüths und der Erkenntniss und
gelangt endlich wie ein Genesender mit schmerzlichem Lächeln hinaus in Frei-
heit und lichte Stille: - so wird doch Einer sagen ,Der da hält seine Krankheit
für ein Argument'." (285, 11-15). Der abschließende Text (Μ 575): „Wir Luft-
Schifffahrer des Geistes" steigert die Vorstellungen der Veränderung
(vgl. 58, 13-18) und des Fortschritts bis zu einem Fortfliegen „in's Weite, Wei-
teste" (331, 6), letztlich in die „Unendlichkeit" (331, 30).

574
331, 1 Nicht zu vergessen!] In Zarathustra I ,Vom Wege des Schaffenden'
variiert N. diese Vorstellung: „Du gehst über sie hinaus: aber je höher du
steigst, um so kleiner sieht dich das Auge des Neides. Am meisten aber wird
der Fliegende gehasst" (KSA 4, 81, 31-33). Die Selbstaufforderung in der Über-
schrift basiert auf einem Perspektivenwechsel: Nicht vergessen werden sollten
die Folgen der (Nicht-)Wahrnehmung von Seiten anderer Menschen, weil das
eigene Dasein und Lebensgefühl nicht unabhängig davon ist - das zeigen N.s
Klagen in seinen Briefen. Schon in M 568 versucht er sich angesichts des aus-
bleibenden Echos auf seine bisherigen Schriften metaphorisch Mut zuzuspre-
chen (vgl. NK M 568). Deshalb hält er hier an der Vorstellung der Höhe und
des Fliegens fest. Die Flugmetaphorik bereitet den folgenden, letzten Text vor,
der ihr das finale Pathos verleiht.

575
331, 5 Wir Luft-Schifffahrer des Geistes!] Zur Gesamtcharakterisie-
rung und zum responsorischen Verhältnis dieses letzten Textes des ,Fünften
Buchs' zum ersten vgl. den Überblickskommentar S. 57 f. Anders als in den
zahlreichen Versuchen einer Selbstverständigung, in denen sich N. als einsa-
men Denker sieht, der aus der Distanz des Unzeitgemäßen auf seine Zeit blickt,
exponiert er hier schon in der thematischen Leitvorstellung ein „Wir", und er
verstärkt diese pluralische Sicht zuerst in der Metapher eines immer weiterflie-
genden Schwarms von Zugvögeln, dann in einer pointierenden Wiederholung
des „wir" und „uns" und schließlich in dem Anruf an die gleichgesinnten „Brü-
der" (331, 31). Es handelt sich bis in die Metaphorik der Wandervögel und bis
 
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