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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0488
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Überblickskommentar 473

Um einen ungefähren Eindruck vom Größenverhältnis zwischen der Zahl der
veröffentlichten und der nachgelassenen Gedichte N.s zu vermitteln, sei nur
darauf verwiesen, dass das schon erwähnte Verzeichnis seiner lyrischen Texte
seit 1869 in KSA 15, 263-271 insgesamt 427 verschiedene Gedichte bzw. Gedicht-
entwürfe auflistet. Zwar befinden sich unter den zahlreichen Nachlassgedich-
ten auch solche, die als Varianten oder Vorstufen zu einigen der veröffentlich-
ten Gedichte zu bezeichnen sind, wobei in manchen Fällen gleich eine ganze
Reihe von (Vor-)Fassungen vorliegt: beispielsweise bei dem bekannten Kolum-
bus-Gedichts Nach neuen Meeren aus den Liedern des Prinzen Vogelfrei (vgl.
KSA 3, 649, 1-9), das ursprünglich Columbus novus betitelt war (vgl. NL 1882,
l[101], KSA 10, 34, 3-11) und noch in weiteren Zwischen-Versionen erhalten ist,
oder bei dem ebenfalls im „Anhang" zur Zweitausgabe von FW erschienenen
,Zarathustra-Gedicht' Sils-Maria (vgl. KSA 3, 649, 10-16), das zuerst Portofino
hieß (vgl. NL 1882, 3[3], KSA 10, 107, 18-108, 2). Obwohl N. also in seinem
lyrischen Schaffen - ebenso wie mit seinen philosophischen Schriften - nicht
selten dem Prinzip des worl< in progress bzw. des patchwork folgte und mithin
etliche Gedichte permanent um- und neugestaltete, enthält das Gedichtver-
zeichnis in KSA 15 doch einen Großteil eigenständiger lyrischer Texte bzw.
Textentwürfe. Besonders reichhaltig sind solche in den Jahren 1882 (dem Ent-
stehungsjahr von IM und der Erstausgabe von FW), 1884 (nach der Veröffentli-
chung von Za III; im Herbst dieses Jahres schreibt N. sein bis heute prominen-
testes Gedicht Der Freigeist / Die Krähen schrei'n ...; vgl. NL 1884, 28[64], KSA)
und 1888 (der Zeit der Druckvorbereitung von DD) verfasst worden. Darunter
finden sich auch Entwürfe zu weiteren umfänglichen Gedichtzyklen wie etwa
einem „Lieder und Sinnsprüche" enthaltenden „NARREN-BUCH" (NL 1882,
20[1], KSA 9, 680, lf.; vgl. hierzu Groddeck 1991b, 175 f.), dessen Titel auf die
für den mittleren und späten N. - auf je verschiedene Weise - charakteristische
Verbindung von Narr und Dichter verweist.
Dass N. den deutlich überwiegenden Teil seiner Gedichte zurückhielt bzw.
über die Projektierung von lyrischen Großzyklen kaum hinausgelangte, mag
auch mit der recht ambivalenten Selbsteinschätzung seines lyrischen Talents
zusammenhängen. Diese Ambivalenz zieht sich durch seine gesamte Schaf-
fenszeit hindurch. Anfang der 1870er Jahre sah N. für sich noch eine Alternati-
ve zwischen der begonnenen Philosophen- und einer möglichen Dichterexis-
tenz, wobei er sich noch keineswegs sicher war, was von beidem aus ihm wer-
den würde. Entsprechend schreibt er etwa am 29. März 1871 an den Freund
Erwin Rohde: „So lebe ich mich allmählich in mein Philosophenthum hinein
und glaube bereits an mich; ja wenn ich noch zum Dichter werden sollte, so
bin ich selbst hierauf gefaßt. Einen Kompaß der Erkenntniß, wozu ich be-
stimmt sei, besitze ich ganz und gar nicht" (KSB 3/KGB II/1, Nr. 130, S. 190, Z.
 
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