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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0491
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476 Idyllen aus Messina

In den Kapiteln 5 und 6 von GT führt er diese These anhand des hier zum
,Urbild' des Lyrikers stilisierten Archilochos (7. Jh. v. Chr.), der auch schon in
der Vorlesung behandelt wurde, weiter aus. Archilochos tritt dabei als der erste
„dionysisch-apollinische Genius" auf (KSA 1, 42, 15 f.), der somit die von N.
behauptete Synthese des Dionysischen und Apollinischen in der attischen Tra-
gödie auf dem Gebiet der Lyrik antizipiert. Zugleich soll Archilochos, der pri-
mär rauschhaft-musikalischer, also dionysischer Genius - und erst an zweiter
Stelle auch traumhaft-bildnerischer, also apollinischer Genius - sei, „das wich-
tigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik" repräsentieren, nämlich die „als
natürlich geltende Vereinigung, ja Identität des Lyrikers mit dem Musi-
ker" - und damit ebenfalls „den Lyriker" schlechthin (KSA 1, 43, 27-33). Über
„den Lyriker", wie ihn Archilochos idealtypisch verkörpere, hält N. fest: „Er ist
zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz
und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als
Musik [...]; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleichnissarti-
gen Traumbilde, unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. [...] Die
dionysisch-musikalische Verzauberung [...] sprüht jetzt gleichsam Bilderfunken
um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und
dramatische Dithyramben heissen." (KSA 1, 43, 33-44, 26). Aufgrund dieser
primären Einheit des Lyrikers mit dem Ur-Einen weist N. die auf Hegel zurück-
gehende Auffassung, in der Lyrik äußere sich die Subjektivität des Dichters,
scharf zurück. Das ,lyrische Ich' sei kein konkretes Subjekt, sondern vielmehr
die „ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit" (KSA 1, 45, 12), der „Weltge-
nius" (KSA 1, 45, 26), den N. im Anschluss an Schopenhauers Ästhetik auch
als „reines ungetrübtes Sonnenauge" bezeichnet, das „völlig losgelöst von der
Gier des Willens" ist (KSA 1, 51, 16 f.).
Im Zusammenhang mit dem Theorem von der Geburt der Lyrik aus dem
Geist der Musik setzt der frühe N. die Lyrik überhaupt mit dem Volkslied gleich,
da die „Melodie" gegenüber dem Text als „das bei weitem wichtigere und noth-
wendigere in der naiven Schätzung des Volkes" erscheine (KSA 1, 48, 30 f.).
Die Texte seien dagegen, wie bezeichnenderweise am romantischen Beispiel
von Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung Des Knaben Wun-
derhorn (1805-1808) dargelegt wird, nur die „Bilderfunken", welche die Melo-
die um sich „sprüht". Insofern gilt Archilochos für N. nicht nur als Begründer
der Lyrik, sondern in eins damit als Begründer des Volkslieds: „In der Dichtung
des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das Stärkste angespannt, die
Musik nachzuahmen: deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt
der Poesie, die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit
haben wir das einzig mögliche Verhältniss zwischen Poesie und Musik, Wort
und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik
 
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