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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0490
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Überblickskommentar 475

Form zitiert, scheint zu zeigen, dass für N. schließlich die Poesie als Siegerin
aus dem „Krieg" mit der Prosa hervorgegangen ist, er sich in der letzten Phase
seines Schaffens mehr zur Lyrik und weniger zur Philosophie hingezogen fühl-
te. Doch dies griffe zu kurz. Vielmehr bleibt die Ambivalenz in N.s Selbstein-
schätzung als Lyriker bis zum Schluss bestehen. Dass eines der letzten von
ihm selbst für den Druck vorbereiteten Werke die Dionysos-Dithyramben waren,
spricht nicht etwa dagegen, sondern durchaus dafür. Denn paradoxerweise
enthält die poetologische Selbstreflexion, die gleich für das erste Gedicht mit
dem programmatischen Titel Nur Narr! Nur Dichter! konstitutiv ist, eine merkli-
che Abwertung der Dichtung. Anders als noch in FW und im Umkreis dieser
Schrift erscheint das dichterische Narrentum hier nicht mehr positiv als nötiges
Gegengewicht der philosophischen ,Wissenschaft‘; stattdessen versperrt es den
Zugang zu einer „Wahrheit", als deren „Freier" sich das lyrische Ich doch ver-
stehen will (KSA 6, 378, 12). Dagegen baue der Dichter lediglich „lügnerische[]
Wortbrücken" (KSA 6, 378, 7) und sei bestenfalls zu der Einsicht fähig, dass er
„verbannt sei / von aller Wahrheit!" (KSA 6, 380, 19 f.) Das bereits
im Gedichttitel - und dann auch mehrfach im Gedicht selbst - epanaleptisch
exponierte „Nur" hat demnach eine degradierende Funktion: Der dem bunten
Schein verhaftete Dichter bzw. Lyriker wird nunmehr, wie ähnlich schon im
Za-Kapitel „Von den Dichtern", unter den wahrheitssuchenden Denker herab-
gesetzt. Zu einer gewissen Spannung zwischen Gehalt und Form kommt es da-
bei freilich, insofern diese - den alten platonischen Vorwurf variierende -
Dichtungskritik ihrerseits im Medium der Lyrik vorgetragen wird.
Doch beschränkt sich N.s Dichtungs-/Lyriktheorie keineswegs auf selbst-
bezügliche Aussagen bzw. auf die immanente Poetologie seiner Gedichte, son-
dern greift innerhalb seines Werks von früh an viel genereller Raum. Gerade
auch zu seiner Philosophie gehört wesentlich die ästhetisch-poetologische Re-
flexion, insbesondere auf die lyrische Gattung. Dabei zeichnet sich, neben
manchen konzeptionellen Verschiebungen, eine bemerkenswerte Kontinuität
ab, die das Frühwerk mit dem Spätwerk verbindet: die (traditionsreiche) Asso-
ziation von Lyrik und Musik (vgl. dazu u. a. Riedel 1998, 16-20), die wahr-
scheinlich auch damit zusammenhängt, dass der junge N. viele lyrische Dich-
tungen zuerst über Vertonungen von Komponisten wie Franz Schubert oder
Robert Schumann kennenlernte. Den Leitgedanken von der engen Verbindung
zwischen beiden Künsten entwickelte N. theoretisch jedenfalls bereits im Rah-
men seiner philologischen Arbeit während der Zeit der Basler Professur. In sei-
ner zum ersten Mal im Sommer 1869 und bis zum Winter 1874/75 mehrfach
gehaltenen Vorlesung Die griechischen Lyriker hebt N. in diesem Sinne die ur-
sprüngliche Einheit von Lyrik und Musik in der Antike hervor und spricht von
der Tonkunst als der „natürlichen Stütze" (KGW II/2, 107) der griechischen
Lieddichtung, was in der modernen Lyrik leider nicht mehr der Fall sei.
 
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