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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0518
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Stellenkommentar Prinz Vogelfrei, KSA 3, S. 335 503

Idyllentradition Theokrit verbergen, der im Untertitel des dritten Gedichts Lied
des Ziegenhirten als mein[ ] Nachbar [...] von Syrakusä apostrophiert wird, viel-
leicht aber auch Goethe, dessen Überfahrt nach Sizilien auf den Tag genau
95 Jahre vor derjenigen N.s stattfand: am 29. Mai 1787. Vor dem Hintergrund
des Subtextes Μ 575 erweist sich jedoch noch eine andere Deutung als möglich,
die den vorausfliegenden „Vogel" als Metapher für den antizipierten ,freien
Geist' der Zukunft versteht, dessen bloße Möglichkeit dem ,freien Geist' der
Gegenwart zum Ansporn wird, mit ihm zu wetteifern: „Andere Vögel wer-
den weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen
um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserm Haupte
und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne,
sieht die Schaaren viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin stre-
ben werden wohin wir strebten, und wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist!" (Μ
575, KSA 3, 331, 16-23)
Im Kontext des vorliegenden Gedichts wird das Vogel-Motiv - vom Ende
her gelesen - im Unterschied zur Schluss-Nummer der Morgenröthe allerdings
poetologisch aufgeladen. Damit schließt N. an einen alten, schon seit der grie-
chischen Antike geläufigen Topos an, wonach der Dichter mit einem Vogel
gleichgesetzt wird. Bereits Pindar verwendet in zwei seiner Oden (in der zwei-
ten Olympischen und dritten Nemeischen Ode) das Bild eines Vogels - des ma-
jestätischen Adlers - als Metapher für den Dichter. Insbesondere in der Litera-
tur des 18. Jahrhunderts wurde dieser Topos vielfach aufgegriffen und variiert.
So ist etwa in Klopstocks poetologischer Ode Der Lehrling der Griechen aus dem
Jahr 1747 von „Dichtrische[n] Tauben" die Rede (Klopstock 1771, 75, V. 5), und
so fungiert in Goethes Wandrers Sturmlied, das N. gut kannte, die „Lerche [...]
da droben" (Goethe 1853, 54) als Sinnbild für den (genialischen) Dichter.
335, 5 Ich flog ihm nach und rast' und raste] Nicht eindeutig ist, ob N. am
Zeilenende bei „rast' und raste" an das Verb ,rasen' oder an das Verb ,rasten'
denkt. Vom Reim auf „Gaste" her und im gegebenen Kontext wäre es nahelie-
gend, zumindest am Zeilenende an die 1. Person Präsens von ,rasten' zu den-
ken, genauso möglich ist aber auch ein unreiner Reim auf die 1. Person Präteri-
tum von ,rasen'. Dieselbe Uneindeutigkeit ergibt sich für „rast'" - anders als
in einer Vorstufe, in der es statt „Ich flog ihm nach und rast'" noch heißt: „So
folg ich dem und träume" (KSA 14, 229).
335, 6 f. ] In der in KSA 14, 229 mitgeteilten Vorstufe folgen hier weitere Vers-
zeilen, die N. für die Druckfassung gestrichen hat:
„Ein Vogel selber sicherlich!
Und sing und schaue weit um mich
 
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