502 Idyllen aus Messina
the wieder auf, wo es unmittelbar unter der Überschrift „Wir Luft-Schiff-
fahrer des Geistes!" heißt: „Alle diese kühnen Vögel, die in's Weite, Wei-
teste hinausfliegen, - gewiss! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können
und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken - und noch
dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft!" (Μ 575, KSA 3, 331, 5-9)
Die „kühnen Vögel" dienen hierbei als Metapher für die ,freien Geister', welche
die Enge und Gebundenheit überkommener Vorstellungen hinter sich lassen,
jedoch schließlich scheitern und stehenbleiben. N. schreibt dort weiter: „Alle
unsere grossen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und
es ist nicht die edelste und anmuthigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen
bleibt [...]! Was geht das aber mich und dich an!" (Μ 575, KSA 3, 331, 12-16)
Als ein „kühner Vogel", der die Konsequenzen daraus zieht, dass ihn dies
nichts angehe, erscheint im vorliegenden Gedicht auch das lyrische Ich, wenn
es hier - im Unterschied zur späteren Fassung „So häng' ich denn" (FW An-
hang, KSA 3, 641, 10) - in der Vergangenheitsform („hang") von seiner Notun-
terkunft „auf krummem Aste" spricht. In der fiktiven Sprechgegenwart hat das
lyrische Ich sie also schon wieder verlassen und befindet sich erneut im hero-
isch-freien Flug.
Möglicherweise bezieht sich auf das hier Gestaltete auch jene Passage aus
dem Briefentwurf an einen unbekannten Adressaten (Lou von Salome?) von
Ende November 1882, wo es heißt: „Idyl<len> aus Messina Psychol<ogisches>
Problem 2 Zeiten. Ich fürchtete mich und überwand mich." (KSB 6/KGB III/1,
Nr. 336, S. 283, Z. 28 f.)
335, 3 Hoch über Meer und Hügelchen] KSA 14, 229 teilt hierzu eine Vorstufe
mit, in der es noch mit konkretem Ortsbezug heißt: „An diesem Genueser Hü-
gelchen". Das spricht dafür, dass dieses Gedicht - entgegen N.s späterer pau-
schaler Behauptung, er habe die Idyllen in Messina verfasst - nicht auf Sizilien,
sondern bereits vorher in Genua entstanden ist. Durch die Änderung des Verses
wird ferner die Loslösungs- und Höhenphantasie verstärkt: In der Druckfas-
sung von 1882 hat das lyrische Ich die Bodenhaftung fast völlig verloren. Über-
dies bindet die Nennung des Meeres den Gedichtanfang noch mehr an die letz-
te Nummer der Morgenröthe an, wo ebenfalls ein Flug über dem Meer imagi-
niert wird. Die ,erhabene' Vorstellung des Aufenthalts hoch über dem Meer
wird im Gedicht allerdings nicht zuletzt durch das Diminutiv „Hügelchen" kon-
terkariert.
335, 4 Ein Vogel lud mich her zu Gaste -] Wer mit diesem „Vogel" gemeint ist,
wird nicht präzisiert. Während Köhler 1989, 284 f. u. 320 f. wenig plausibel von
einer homoerotischen Anspielung auf einen ,namenlosen' sizilianischen Kna-
ben ausgeht, mutmaßt Müller 1995, 78, dahinter könne sich der Begründer der
the wieder auf, wo es unmittelbar unter der Überschrift „Wir Luft-Schiff-
fahrer des Geistes!" heißt: „Alle diese kühnen Vögel, die in's Weite, Wei-
teste hinausfliegen, - gewiss! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können
und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken - und noch
dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft!" (Μ 575, KSA 3, 331, 5-9)
Die „kühnen Vögel" dienen hierbei als Metapher für die ,freien Geister', welche
die Enge und Gebundenheit überkommener Vorstellungen hinter sich lassen,
jedoch schließlich scheitern und stehenbleiben. N. schreibt dort weiter: „Alle
unsere grossen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und
es ist nicht die edelste und anmuthigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen
bleibt [...]! Was geht das aber mich und dich an!" (Μ 575, KSA 3, 331, 12-16)
Als ein „kühner Vogel", der die Konsequenzen daraus zieht, dass ihn dies
nichts angehe, erscheint im vorliegenden Gedicht auch das lyrische Ich, wenn
es hier - im Unterschied zur späteren Fassung „So häng' ich denn" (FW An-
hang, KSA 3, 641, 10) - in der Vergangenheitsform („hang") von seiner Notun-
terkunft „auf krummem Aste" spricht. In der fiktiven Sprechgegenwart hat das
lyrische Ich sie also schon wieder verlassen und befindet sich erneut im hero-
isch-freien Flug.
Möglicherweise bezieht sich auf das hier Gestaltete auch jene Passage aus
dem Briefentwurf an einen unbekannten Adressaten (Lou von Salome?) von
Ende November 1882, wo es heißt: „Idyl<len> aus Messina Psychol<ogisches>
Problem 2 Zeiten. Ich fürchtete mich und überwand mich." (KSB 6/KGB III/1,
Nr. 336, S. 283, Z. 28 f.)
335, 3 Hoch über Meer und Hügelchen] KSA 14, 229 teilt hierzu eine Vorstufe
mit, in der es noch mit konkretem Ortsbezug heißt: „An diesem Genueser Hü-
gelchen". Das spricht dafür, dass dieses Gedicht - entgegen N.s späterer pau-
schaler Behauptung, er habe die Idyllen in Messina verfasst - nicht auf Sizilien,
sondern bereits vorher in Genua entstanden ist. Durch die Änderung des Verses
wird ferner die Loslösungs- und Höhenphantasie verstärkt: In der Druckfas-
sung von 1882 hat das lyrische Ich die Bodenhaftung fast völlig verloren. Über-
dies bindet die Nennung des Meeres den Gedichtanfang noch mehr an die letz-
te Nummer der Morgenröthe an, wo ebenfalls ein Flug über dem Meer imagi-
niert wird. Die ,erhabene' Vorstellung des Aufenthalts hoch über dem Meer
wird im Gedicht allerdings nicht zuletzt durch das Diminutiv „Hügelchen" kon-
terkariert.
335, 4 Ein Vogel lud mich her zu Gaste -] Wer mit diesem „Vogel" gemeint ist,
wird nicht präzisiert. Während Köhler 1989, 284 f. u. 320 f. wenig plausibel von
einer homoerotischen Anspielung auf einen ,namenlosen' sizilianischen Kna-
ben ausgeht, mutmaßt Müller 1995, 78, dahinter könne sich der Begründer der