Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0516
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar Prinz Vogelfrei, KSA 3, S. 335 501

dichts hervorgeht, in der wörtlichen, allgemeinen Bedeutung ,frei wie ein Vo-
gel', zum anderen klingt aber auch die damit verbundene, aus dem Mittelalter
stammende engere, juristische Bedeutung des (außer)rechtlichen Status eines
Verbrechers an, der durch seine Übertretung des Gesetzes auch nicht mehr
unter dem Schutz des Rechts steht. Dies assoziiert N. mit dem in seiner mittle-
ren Phase mit Vorliebe gebrauchten Begriff des alle Normen und (moralischen)
Konventionen hinterfragenden und hinter sich lassenden Freigeists. Vgl. fol-
genden Passus aus der Morgenröthe: „Gegenwärtig scheint es so, dass unter
allerhand falschen irreführenden Namen und zumeist in grosser Unklarheit
von Seiten Derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze
gebunden halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisiren
und damit sich ein Recht zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher,
Freidenker, Unsittliche, Bösewichte verschrieen, unter dem Banne der Vogel-
freiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend, lebten." (Μ
164, KSA 3, 146, 27-147, 7) Der vogelfreie Freigeist erscheint demnach als ein
,Outlaw'. Da N. den „Heroism als Zeichen der Freiheit" verstand (NL 1883,
7[38], KSA 10, 255, 5), entspricht das Eingangsgedicht in besonderem Maß sei-
nem Konzept der „heroischen Idylle" (KSB 6/KGB III/1, Nr. 122, S. 100, Z. 16 f.).
Die Bezeichnung „Prinz" deutet auf N.s - mit dem Freigeist-Ideal verbun-
denen - Aristokratismus hin. N., der gern in der Kategorie der Vornehmheit'
dachte, reklamierte für sich selbst schon früh eine adlige Herkunft und ver-
suchte sogar, aus seinem Nachnamen die Abstammung aus polnischem Adel
abzuleiten. So schreibt er in einem Notat aus dem Jahr 1882 rückblickend auf
seine Jugendjahre: „Man hat mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und
Namens auf polnische Edelleute zurückzuführen, welche Nietzky hießen und
etwa vor hundert Jahren ihre Heimat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen
religiösen Bedrückungen endlich weichend: es waren nämlich Protestanten."
(NL 1882, 21[2], KSA 9, 681, 6-10) Bis in seine späte Schaffensphase hinein hielt
N. an dieser - irrigen - Vorstellung fest. Noch in Ecce homo behauptet er: „Ich
bin ein polnischer Edelmann pur sang"! (EH Warum ich so weise bin 3, KSA 6,
268, 2f.; vgl. NK 6/2, 372-374) Allerdings ist ein „Prinz" mehr und anderes als
nur ein „Edelmann"; möglicherweise dachte N. - obwohl der Prinz Vogelfrei
der poetischen und nicht der politischen Sphäre angehört - auch an Machia-
vellis „Principe", der in gewissem Sinn ja ebenfalls als ,vogelfrei' gelten kann.
Den Titel Prinz Vogelfrei änderte N. später, als er das Gedicht in einer neu-
en, erweiterten Fassung in den lyrischen „Anhang" der 1887 erschienenen
Neuausgabe von FW aufnahm, zu Im Süden. Dafür erhielt nun der gesamte
Anhang den programmatischen Titel Lieder des Prinzen Vogelfrei.
335, 2 So hang ich denn auf krummem Aste] Dieser erste Vers - wie der Gedicht-
beginn insgesamt - nimmt die Metaphorik des letzten Kurztextes der Morgenrö-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften