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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0524
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Stellenkommentar Prinz Vogelfrei, KSA 3, S. 336 509

dung zum ,scherzhaften Gesang' zu einer Dichtungsart, für welche die Gesellig-
keit konstitutiv sei.
336, 3-5 So horcht mir denn auf meine Weise I Und setzt euch still um mich im
Kreise, I Ihr schönen Vögelchen, herum!] Hier wurde eine Anspielung auf die
phäakischen Mädchen aus dem Sechsten Gesang von Homers Odyssee vermu-
tet (vgl. Müller 1995, 79), auf den auch Goethes Nausikaa-Fragment rekurriert,
das im Gedicht zitiert wird (335, 7). Gemeint ist die Stelle, wo der schiffbrüchige
Odysseus bei den Phäaken erwacht und auf die Mädchen um Nausikaa zugeht,
welche zunächst fliehen, dann aber von dieser, die sich in den Helden verliebt,
zurückgerufen werden. Einige Monate vor seinem Sizilien-Aufenthalt hatte N.
Köselitz zur Vertonung dieses idyllischen' Stoffs anregen wollen: „Immer
schwebt jetzt ,Nausicaa' um mich, ein Idyll mit Tänzen und aller südlichen
Herrlichkeit solcher, die am Meere leben" (Brief vom 18. 11. 1881; KSB 6/KGB
III/1, Nr. 168, S. 142, Z. 14-16); und aus dem Frühjahr 1882 stammt ein Gedicht
N.s, dem er den Titel Nausikaa-Lieder gab (NL 1882, 19[10], KSA 9, 677, 18-678,
16). Insofern ist der Gedanke an die phäakischen Mädchen nicht ganz von der
Hand zu weisen. Plausibler erscheint jedoch im poetologischen Kontext die
Deutung der letzten Strophe von Prinz Vogelfrei als Aufnahme eines in der
scherzhaft-geselligen Lyrik des 18. Jahrhunderts vorkommenden selbstreferen-
tiellen Motivs: Das lyrische Ich des ,Sängers' fordert junge Mädchen auf, sich
zu ihm zu setzen und seinem Lied zu lauschen. N.s Version dieses Motivs erin-
nert besonders stark an die erste Strophe von Goethes anakreontischem Ju-
gendgedicht Ziblis. Eine Erzählung aus dem Buch Annette (1767). Die Strophe
lautet:
„Mädgen, setzt euch zu mir nieder
Niemand stört hier unsre Ruh,
Seht, es kommt der Frühling wieder
Wekkt die Blumen und die Lieder,
Ihn zu ehren hört mir zu." (Goethe 1896, 14)
Abgesehen von dem Frühlings-Motiv finden sich alle Elemente dieser Verse
auch in N.s Schlussstrophe wieder. Darüber hinaus fallen Ähnlichkeiten im
Strophenbau beider Gedichte auf: Obwohl sich N. im Unterschied zu Goethes
trochäischen Versen eines jambischen Metrums bedient, sind die Anzahl der -
in beiden Fällen vierhebigen - Verszeilen und auch das Reimschema identisch.
Festzustellen ist, dass es einen gewissen Bruch zwischen den ersten drei
und letzten beiden Strophen von N.s Gedicht gibt: Von der Vorstellung des
,vogelfrei' Fliegenden, der alle Bindungen, Konventionen und Ziele hinter sich
lässt, geht der Text schließlich zu derjenigen des geselligen Sängers über, der
 
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