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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0041
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18 Die fröhliche Wissenschaft

verfremdend oder dekontextualisierend - zitiert, ist ferner die Bibel (vgl. Som-
mer 2008). Auch die Vertrautheit mit dieser Überlieferung geht auf N.s lebens-
geschichtliche Vergangenheit bzw. familiäre Herkunft zurück: Der aus einem
protestantischen Pfarrhaus stammende N. studierte während seines ersten Se-
mesters in Bonn noch Theologie. Gerade dadurch aber gewann er alsbald Dis-
tanz und begann, sich insbesondere für bibel- und religionskritische Fragestel-
lungen zu interessieren. Entsprechend übte Schrifttum aus diesem Bereich
ebenfalls Einfluss auf ihn aus. Dies gilt schon für MA und Μ, in verstärktem
Maße jedoch für FW, vor allem für deren Drittes Buch, das im Zeichen der
Diagnose „Gott ist todt" (FW 108, 467, 5; FW 125, 481, 15) steht und damit be-
reits dem späteren „Fluch auf das Christentum" in Der Antichrist (AC) prälu-
diert. N. kannte nicht nur Ludwig Feuerbachs anthropologische Reduktion,
die alle religiösen Transzendenzvorstellungen zu bloßen Projektionen erklärte
(vgl. schon die Feuerbach-Allusion in FW Vorspiel 38), sondern er studierte
darüber hinaus etliche bibel- und religionskritische Werke des 19. Jahrhunderts
wie bspw. Joseph Hermann Thomassens Monographie Bibel und Natur aus dem
Jahr 1881. Dennoch hinderte N. das nicht daran, noch 1885 in JGB 247 die Lu-
ther-Bibel - ungeachtet aller fortdauernden Kritik an Luther (vgl. FW 129,
FW 146, FW 148, FW 149 u. FW 358) - in den höchsten Tönen zu loben: „Das
Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das Meisterstück
ihres grössten Predigers: die Bibel war bisher das beste deutsche Buch. Gegen
Luther's Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur ,Litteratur"' (KSA 5, 191, 8-11).
Aus Luthers Bibelübersetzung bedient sich N. in FW denn auch ebenso (häufig
und beiläufig) wie aus dem deutschen Sprichwörterschatz oder den deutschen
Klassikern, allen voran Goethe.
Mit dem Thema der Religion ist in N.s Texten seit der ,mittleren' Schaffens-
phase das der Moral eng verbunden. Das 1881 erschienene Werk M, als deren
direkte Fortsetzung FW zunächst noch geplant war, verrät dies schon in seinem
Untertitel: „Gedanken über die moralischen Vorurtheile". Dort werden in vielen
Abschnitten religiöse und moralische Werturteile in ihren historischen sowie
psychologischen Voraussetzungen thematisiert; oft proklamieren die von N. in-
stanziierten Sprecherfiguren eine Befreiung von überkommenen Bindungen.
Schlagwort dieser Befreiung ist der ,Freigeist' bzw. der ,freie Geist' - ein Begriff,
mit dem N. an die europäische, insbesondere französische Tradition des aufklä-
rerischen Denkens im 18. Jahrhundert anknüpfte. Das begann bereits im ersten
Teil von MA, der 1878 veröffentlicht wurde und in der Erstausgabe noch eine
markante Dedikation enthielt: „Dem Andenken Voltaire's / geweiht / zur Ge-
dächtniss-Feier seines Todestages, / des 30. Mai 1778" (KSA 14, 115). Die Zu-
sendung dieses Werks an Wagner, der N. kurz zuvor seinen Parsifal zugeschickt
hatte, besiegelte endgültig den Bruch zwischen den beiden. Den „Oberkirchen-
 
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