Metadaten

Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0049
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
26 Die fröhliche Wissenschaft

Anstatt den Aphorismus als Textsorte „zwischen Philosophie und Poesie"
(Fedler 1992) zu fassen und gattungsprägende, auch von N. geschätzte Autoren
aus der französischen Moralistik (bspw. La Rochefoucauld, Vauvenargues oder
Chamfort) als Beispiele anzuführen, wie es heute vielfach üblich ist, bestimmt
etwa Brockhaus' Conversations-Lexikon in der 9. Auflage von 1843 „Aphoris-
men" noch gemäß dem im 18. Jahrhundert dominierenden Wortgebrauch (vgl.
Spicker 1997, 25-34) insbesondere als spezifische Kurz-Darstellungsform wis-
senschaftlicher Lehrbücher: „überhaupt abgerissene Sätze, [...] in engerer Be-
deutung kurze Sätze, in welchen der Hauptinhalt einer Wissenschaft vorgetra-
gen wird; daher der Ausdruck: aphoristische Schreibart, d.i. die dem
ausführlichen fortlaufenden Vortrage entgegengesetzte Schreibart in kurzen,
abgebrochenen Sätzen, wobei ein innerer logischer Zusammenhang in hohem
Grade stattfinden kann und die dem leichten Verständniß entschieden vortheil-
hafter ist, als die Sitte, lange Perioden zu bilden und diese durch Zwischensätze
noch mehr zu zerreißen. In der kurzen, bündigen Gattung sind des Hippokrates
medicinische ,Aphorismen' musterhaft." (Brockhaus 1843-1848, 1, 409) Dass
diese Begriffsbestimmung auch noch im späteren 19. Jahrhundert gängig blieb,
belegt etwa der auffallend ähnlich lautende Artikel in der 2. Auflage von Meyers
Konversations-Lexikon, an dessen Schluss zusätzlich vor der Gefahr gewarnt
wird, den aphoristischen Stil zur „Gewohnheit" werden zu lassen, weil dies „das
Verständniß erschwert" und auf einem „Mangel an sprachlicher Durchbildung"
beruhe (Meyer 1861-1871, 1, 894) - eine negative Wertungstendenz, die sich
dann auffällig wortgleich wiederum am Ende des Artikels „Aphorismen" in der
12. Auflage von Brockhaus' Conversations-Lexikon findet: „Redner und Schrift-
steller, deren Ausdruck überhaupt aphoristisch ist, ringen mit dem eigenen Den-
ken oder ermangeln wenigstens der sprachlichen Durchbildung." (Brockhaus
1875-1879, 1, 974) Obwohl mit Blick auf N. tatsächlich in gewisser Weise von
einem „[R]ingen mit dem eigenen Denken" die Rede sein kann, wird wohl kaum
jemand ernstlich behaupten, dass seine Kurzprosa der „sprachlichen Durchbil-
dung" ermangle; eher ließe sich ihr schon das Gegenteil vorhalten. Um die fass-
liche, einprägsame Darstellung eines wissenschaftlichen bzw. philosophischen
Lehrgebäudes geht es in N.s ,Aphorismen-Büchern', anders als noch in Scho-
penhauers Aphorismen zur Lebensweisheit (1851), ebenfalls nicht (obschon man-
che Interpreten noch im 20. und 21. Jahrhundert das Gegenteil behauptet haben,
besonders markant Löwith 1987, 111-123, der „Nietzsches Philosophie" für „ein
System in Aphorismen" hielt; vgl. auch Young 2010, 326, der insbesondere in
FW „a central argument" erblicken will, „which, in spite of its aphoristic formu-
lation, is remarkably, even rigorously, systematic").
Allerdings beginnt unter Bezugnahme insbesondere auf Goethes Maximen
und Reflexionen oder Lichtenbergs Sudelbücher bereits in der ersten Hälfte des
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften