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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0062
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Überblickskommentar 39

Subjekt des lyrischen Sprechens ist dabei freilich kein einheitliches lyrisches
Ich, sondern es wechseln Selbstaussagen in jeweils rollenhafter Ich- oder Wir-
Form, Anreden an fiktive Adressaten, ,Personenbeschreibungen' in der dritten
Person, direkte und dialogische Rede sich ab. Wie in den folgenden Prosatex-
ten der einzelnen ,Bücher' von FW haben wir es auch hier mit unterschiedli-
chen Sprechinstanzen zu tun, hinter denen nicht ohne Weiteres Sichtweisen
oder Erlebnisse des empirischen Autors N. zu sehen sind. Hinzu kommt, dass
auch auf der inhaltlichen Ebene von FW Vorspiel mit den genannten Themen
und Motiven bereits Vorgriffe auf die Prosa-Abschnitte des ,Haupttextes' erfol-
gen.
Für die enge Verbindung von ,aphoristischer' Prosa und ,philosophischer'
Lyrik im weiter oben schon skizzierten Sinn spricht auch, dass N. im Frühling
1882 in einem disponierenden Entwurf zur Erstfassung von FW den Gedicht-
zyklus „Scherz, List und Rache" gar nicht als ,Paratext' („Vorspiel") behandelt,
sondern auf derselben konzeptionellen Ebene wie die restlichen Werkteile an-
siedelt: „Die fröhliche Wissenschaft. 1. Sanctus Januarius. / 2. Über
Künstler und Frauen. / 3. Gedanken eines Gottlosen. / 4. Aus dem ,moralischen
Tagebuche'. / 5. ,Scherz List und Rache'. Sinnsprüche." (NL 1882, 19[12], KSA 9,
678, 22-26 = M III 6, 25) Der Entwurf vertauscht offenkundig gegenüber der
wenig später erschienenen Druckfassung das Erste mit dem Vierten Buch,
während den Titeln nach zu schließen das Zweite und Dritte Buch ihre Stel-
lung behalten; als ,Fünftes Buch' war diesem Gliederungsschema zufolge die
Gedichtsammlung gedacht, die schließlich bei gleichbleibendem Obertitel
zum „Vorspiel in deutschen Reimen" umgewidmet wurde. Vgl. hierzu Brusotti
1997b, 383, Anm. 8. Ähnlich waren auch die „Lieder des Prinzen Vogelfrei",
die in der Neuausgabe als „Anhang" firmieren, nicht von vornherein als sol-
cher konzipiert. Vielmehr brachten sie es in Werkplänen aus dem Jahr 1885
noch zum Untertitel von „Gai saber" (vgl. KGW IX 5, W I 8, 142, 11-14 =
NL 1885/86, 2[73], KSA 12, 95, 11 f.) sowie sogar zum eigenständigen Werktitel,
unter dem aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur Gedichte, sondern auch
Prosatexte stehen sollten (vgl. KGW IX 4, W I 6, 1, 4-6 = NL 1885, 45[2], KSA 11,
709, 2f. u. KGW IX 4, W I 6, 78, 40-42 = NL 1885, 45[4], KSA 11, 709, 7 f.). Von
einer generell nachrangigen oder ungleichberechtigen Behandlung der lyri-
schen Poesie gegenüber der philosophischen Prosa bei N. zu sprechen, erwiese
sich folglich trotz der schließlich erfolgten Verteilung auf Para- und Haupttext
als fragwürdig.
So beliebig und ziellos N.s eigentümliches Experimentieren mit verschiede-
nen Werktiteln und Werkplänen mitunter auch erscheinen mag, so aufschluss-
reich können diese dennoch in einigen Fällen für die ,Kompositionsgeschichte'
seiner Werke sein. Dies gilt zumal für den zitierten Entwurf vom Frühling 1882.
 
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