48 Die fröhliche Wissenschaft
Erstausgabe von FW angezeigt: „Mit diesem Buche kommt eine Reihe von
Schriften Friedrich Nietzsche's zum Abschluss, deren gemeinsames Ziel ist,
ein neues Bild und Ideal des Freigeistes aufzustellen. In diese Reihe gehören:
Menschliches, Allzumenschliches. Mit Anhang: Vermischte Meinungen und
Sprüche. / Der Wanderer und sein Schatten. / Morgenröthe. Gedanken über die
moralischen Vorurtheile. / Die fröhliche Wissenschaft." (Nietzsche 1882, [U4];
Schaberg 2002, 121) Zu dieser ,freigeistigen' Werkreihe vgl. aus der neueren
englischsprachigen Forschung die Monographien von Franco 2011, Ansell-
Pearson 2018a und Meyer 2019a.
Die deutschen Ausdrücke ,Freigeist' und, wie N. zunehmend lieber
schreibt, ,freier Geist' gehen auf eine Begriffsprägung des 18. Jahrhunderts zu-
rück, die eine Übersetzung des französischen esprit libre darstellt und sich -
kritisch konnotiert - etwa bei Lessing (vgl. dessen Typenkomödie Der Freigeist
von 1749) oder bei Kant findet. Letzterer definiert in seiner kurzen Abhandlung
Was heißt: Sich im Denken orientiren? (1786) die „Denkungsart [...], die man
Freigeisterei nennt", als den „Grundsatz, gar keine Pflicht mehr zu erkennen",
was Kant für ausgesprochen gefährlich hält, da „Freiheit im Denken, wenn sie
sogar unabhängig von Gesetzen der Vernunft [wie dem Sittengesetz] verfahren
will, endlich sich selbst" zerstöre (AA VIII, 146). N. ruft mit seinem „Buch für
freie Geister" nun zwar den geistesgeschichtlichen Kontext des 18. Jahrhun-
derts und insbesondere der Aufklärung auf, aber eher der französischen als
der deutschen Aufklärung, wie schon die Widmung von MA I verrät: „Dem
Andenken Voltaire's / geweiht / zur Gedächtniss-Feier seines Todestages,
des 30. Mai 1778" (Titelblatt der Erstausgabe; vgl. auch den „[Hinweis Nietz-
sches zur Erstausgabe 1878]" in KSA 2, 10, wo Voltaire als „eine[r] der grössten
Befreier des Geistes" figuriert). Dementsprechend ist der Begriff des ,Freigeists'
oder des ,freien Geistes' in dieser Schrift, bei allem Facettenreichtum, auch
deutlich positiver konnotiert als im Mainstream der deutschen Aufklärung. MA
I 225 beispielsweise begreift den ,Freigeist' als Ausnahme-Menschen und stellt
ihm den pejorativ gefärbten Normalfall des ,gebundenen Geistes' gegenüber,
wodurch der Eindruck einer Identifikation der Sprechinstanz mit ersterem
entsteht: „Freigeist ein relativer Begriff. - Man nennt Den einen Frei-
geist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Um-
gebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitan-
sichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel;
diese werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder
in der Sucht, aufzufallen, haben oder gar auf freie Handlungen, das heisst auf
solche, welche mit der gebundenen Moral unvereinbar sind, schliessen las-
sen." (KSA 2, 189, 12-20) In diesem Sinn ließe sich auch noch der Untertitel
von M - „Gedanken über die moralischen Vorurtheile" - als ein Hinweis darauf
Erstausgabe von FW angezeigt: „Mit diesem Buche kommt eine Reihe von
Schriften Friedrich Nietzsche's zum Abschluss, deren gemeinsames Ziel ist,
ein neues Bild und Ideal des Freigeistes aufzustellen. In diese Reihe gehören:
Menschliches, Allzumenschliches. Mit Anhang: Vermischte Meinungen und
Sprüche. / Der Wanderer und sein Schatten. / Morgenröthe. Gedanken über die
moralischen Vorurtheile. / Die fröhliche Wissenschaft." (Nietzsche 1882, [U4];
Schaberg 2002, 121) Zu dieser ,freigeistigen' Werkreihe vgl. aus der neueren
englischsprachigen Forschung die Monographien von Franco 2011, Ansell-
Pearson 2018a und Meyer 2019a.
Die deutschen Ausdrücke ,Freigeist' und, wie N. zunehmend lieber
schreibt, ,freier Geist' gehen auf eine Begriffsprägung des 18. Jahrhunderts zu-
rück, die eine Übersetzung des französischen esprit libre darstellt und sich -
kritisch konnotiert - etwa bei Lessing (vgl. dessen Typenkomödie Der Freigeist
von 1749) oder bei Kant findet. Letzterer definiert in seiner kurzen Abhandlung
Was heißt: Sich im Denken orientiren? (1786) die „Denkungsart [...], die man
Freigeisterei nennt", als den „Grundsatz, gar keine Pflicht mehr zu erkennen",
was Kant für ausgesprochen gefährlich hält, da „Freiheit im Denken, wenn sie
sogar unabhängig von Gesetzen der Vernunft [wie dem Sittengesetz] verfahren
will, endlich sich selbst" zerstöre (AA VIII, 146). N. ruft mit seinem „Buch für
freie Geister" nun zwar den geistesgeschichtlichen Kontext des 18. Jahrhun-
derts und insbesondere der Aufklärung auf, aber eher der französischen als
der deutschen Aufklärung, wie schon die Widmung von MA I verrät: „Dem
Andenken Voltaire's / geweiht / zur Gedächtniss-Feier seines Todestages,
des 30. Mai 1778" (Titelblatt der Erstausgabe; vgl. auch den „[Hinweis Nietz-
sches zur Erstausgabe 1878]" in KSA 2, 10, wo Voltaire als „eine[r] der grössten
Befreier des Geistes" figuriert). Dementsprechend ist der Begriff des ,Freigeists'
oder des ,freien Geistes' in dieser Schrift, bei allem Facettenreichtum, auch
deutlich positiver konnotiert als im Mainstream der deutschen Aufklärung. MA
I 225 beispielsweise begreift den ,Freigeist' als Ausnahme-Menschen und stellt
ihm den pejorativ gefärbten Normalfall des ,gebundenen Geistes' gegenüber,
wodurch der Eindruck einer Identifikation der Sprechinstanz mit ersterem
entsteht: „Freigeist ein relativer Begriff. - Man nennt Den einen Frei-
geist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Um-
gebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitan-
sichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel;
diese werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder
in der Sucht, aufzufallen, haben oder gar auf freie Handlungen, das heisst auf
solche, welche mit der gebundenen Moral unvereinbar sind, schliessen las-
sen." (KSA 2, 189, 12-20) In diesem Sinn ließe sich auch noch der Untertitel
von M - „Gedanken über die moralischen Vorurtheile" - als ein Hinweis darauf