Stellenkommentar FW Titel, KSA 3, S. 343 79
Kenntnisse nicht aus Primärlektüren, sondern aus verschiedenen Sekundär-
darstellungen bezog. Die Quellenforschung hierzu reicht bis ins frühe 20. Jahr-
hundert zurück und hat eine außerordentliche Vielzahl von möglichen Bezugs-
texten im Angebot. Thomas Mann wirft in seinem Essay Richard Wagner und
kein Ende von 1933 die Frage auf, „ob philologisch bekannt ist, daß Nietzsches
Buchtitel ,Die fröhliche Wissenschaft' aus Schlegels Lucinde stammt" (Mann
1993-1997, 4, 47). Indes war zu diesem Zeitpunkt nicht nur schon längst „phi-
lologisch bekannt", dass die Formel in Friedrich Schlegels Roman Lucinde
(1799) vorkommt, sondern auch, dass es noch frühere und im Blick auf N.
sogar einschlägigere Belegstellen gibt. So listet bereits Otto Ladendorf in sei-
nem Historischen Schlagwörterbuch von 1906 in einem eigenen Artikel zum
redensartlichen ,Schlagwort' „Fröhliche Wissenschaft" eine ganze Reihe von
Bezugnahmen auf diesen Ausdruck vor N. auf: Als erster Text werden Herders
Briefe zu Beförderung der Humanität von 1796 angeführt, in denen Herder
„wiederholt [...] dieser anmutigen gereimten Hofverskunst" gedenkt (Laden-
dorf 1906, 96).
Im siebten Band von Herders Humanitätsbriefen heißt es über die Dichtung
der Trobadors: „Glück also zum ersten Stral der neueren poetischen Morgenrö-
the in Europa! Sie hat einen schönen Namen: die fröhliche Wissen-
schaft, (gaya ciencia, gay saber;) möchte sie dessen immer werth seyn!" (Her-
der 1793-1797, 7, 84) Schon bei Herder werden also „Morgenröthe" und
„fröhliche Wissenschaft" in einem Atemzug genannt. Besonders wichtig mit
Blick auf N. erscheint die von Herder jenen Dichtern zugeschriebene ,freigeisti-
ge' Reflexion auf die „Sitten der Fürsten, der Damen, der Geistlichkeit, der Päbs-
te selbst; alles berührte diese Dichtkunst, oft mit einer kühnen Freiheit. [...] Ihre
Kunst hatte den Namen der fröhlichen Wissenschaft (gay saber, gaya
ciencia) so wie auch ihr entschiedner Zweck fröhliche angenehme Un-
terhaltung war." (Ebd., 77 f.) Auch Herders Feststellung, dass jene Dichter
es oft zu „arg" trieben und ihren Werken der hohe poetische Ton abging, ent-
spricht N.s Affinität zu ihnen: „Sie unterhielten die Gesellschaft mit Liedern
und Erzählungen [...], bis sie es zuletzt so arg machten, daß sie von mehreren
Höfen verbannt wurden. / Die ursprüngliche fröhliche Wissenschaft
(gaya ciencia) ging also von Artigkeiten des Gesprächs, von Fragen und Unter-
redungen, von einer angenehmen Unterhaltung aus; auch in Sonnetten der
Liebe, im Lobe und im Tadel, ja bei jedem Inhalt blieb dieser Charakter den
Provenzalen; ein höherer poetischer Ton war ihnen ganz fremde." (Ebd., 82)
Im achten Band der Humanitätsbriefe schließlich bezieht Herder die poetische
Tradition der „fröhlichen Wissenschaft" auf Wieland: „Die Muse unsres Lands-
mannes ist ein reinerer Genius, der in jeder Gestalt, die er annimmt, gewiß
einen edleren Zweck hatte, als uns blos witzig zu amusiren. Ein echter Jünger
Kenntnisse nicht aus Primärlektüren, sondern aus verschiedenen Sekundär-
darstellungen bezog. Die Quellenforschung hierzu reicht bis ins frühe 20. Jahr-
hundert zurück und hat eine außerordentliche Vielzahl von möglichen Bezugs-
texten im Angebot. Thomas Mann wirft in seinem Essay Richard Wagner und
kein Ende von 1933 die Frage auf, „ob philologisch bekannt ist, daß Nietzsches
Buchtitel ,Die fröhliche Wissenschaft' aus Schlegels Lucinde stammt" (Mann
1993-1997, 4, 47). Indes war zu diesem Zeitpunkt nicht nur schon längst „phi-
lologisch bekannt", dass die Formel in Friedrich Schlegels Roman Lucinde
(1799) vorkommt, sondern auch, dass es noch frühere und im Blick auf N.
sogar einschlägigere Belegstellen gibt. So listet bereits Otto Ladendorf in sei-
nem Historischen Schlagwörterbuch von 1906 in einem eigenen Artikel zum
redensartlichen ,Schlagwort' „Fröhliche Wissenschaft" eine ganze Reihe von
Bezugnahmen auf diesen Ausdruck vor N. auf: Als erster Text werden Herders
Briefe zu Beförderung der Humanität von 1796 angeführt, in denen Herder
„wiederholt [...] dieser anmutigen gereimten Hofverskunst" gedenkt (Laden-
dorf 1906, 96).
Im siebten Band von Herders Humanitätsbriefen heißt es über die Dichtung
der Trobadors: „Glück also zum ersten Stral der neueren poetischen Morgenrö-
the in Europa! Sie hat einen schönen Namen: die fröhliche Wissen-
schaft, (gaya ciencia, gay saber;) möchte sie dessen immer werth seyn!" (Her-
der 1793-1797, 7, 84) Schon bei Herder werden also „Morgenröthe" und
„fröhliche Wissenschaft" in einem Atemzug genannt. Besonders wichtig mit
Blick auf N. erscheint die von Herder jenen Dichtern zugeschriebene ,freigeisti-
ge' Reflexion auf die „Sitten der Fürsten, der Damen, der Geistlichkeit, der Päbs-
te selbst; alles berührte diese Dichtkunst, oft mit einer kühnen Freiheit. [...] Ihre
Kunst hatte den Namen der fröhlichen Wissenschaft (gay saber, gaya
ciencia) so wie auch ihr entschiedner Zweck fröhliche angenehme Un-
terhaltung war." (Ebd., 77 f.) Auch Herders Feststellung, dass jene Dichter
es oft zu „arg" trieben und ihren Werken der hohe poetische Ton abging, ent-
spricht N.s Affinität zu ihnen: „Sie unterhielten die Gesellschaft mit Liedern
und Erzählungen [...], bis sie es zuletzt so arg machten, daß sie von mehreren
Höfen verbannt wurden. / Die ursprüngliche fröhliche Wissenschaft
(gaya ciencia) ging also von Artigkeiten des Gesprächs, von Fragen und Unter-
redungen, von einer angenehmen Unterhaltung aus; auch in Sonnetten der
Liebe, im Lobe und im Tadel, ja bei jedem Inhalt blieb dieser Charakter den
Provenzalen; ein höherer poetischer Ton war ihnen ganz fremde." (Ebd., 82)
Im achten Band der Humanitätsbriefe schließlich bezieht Herder die poetische
Tradition der „fröhlichen Wissenschaft" auf Wieland: „Die Muse unsres Lands-
mannes ist ein reinerer Genius, der in jeder Gestalt, die er annimmt, gewiß
einen edleren Zweck hatte, als uns blos witzig zu amusiren. Ein echter Jünger