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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0104
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Stellenkommentar FW Titel, KSA 3, S. 343 81

möglicherweise vermittelt durch Merleker 1857, 195 f. - stützt, konnte N. aber
nicht nur die Wendung „gaya scienza" kennenlernen, sondern überdies etwas
über die Herkunft, die Lyrik und das - bereits von Herder hervorgehobene -
,freigeistige' Wesen der provenzalischen Trobadors erfahren: „Die Provenzalen
hatten die ersten dichterischen Anregungen und Formen aus den arabischen
Reichen Spaniens erhalten, und mit ihrer eigenen Heldenlust und Liebeswon-
ne vermählt. Die von den französischen Rittern Besiegten lebten als Sieger in
der poetischen Kultur der ,Gaya Scienza' in der Provence fort. Die Poesie wurde
hier zum geistigen Turnier und das ganze Volk nahm an ihr theil. Die Urheber
dieser erfinderischen Dichtkunst (art de trobar) erhielten den Namen Trouba-
dours (Erfinder), pflegten wie ihre orientalischen Vorgänger hauptsächlich die
Lyrik, das Liebeslied, das Lehrgedicht und die Satire." (Gsell-Fels 1878b, 316;
zitiert nach Campioni 2009b, 327) Gsell-Fels hebt, was N. gefallen haben dürf-
te, besonders die satirischen „Rügelieder (Sirventes)" hervor, die „für die Pro-
vence die höhere Bedeutung [erhielten], dem socialen und politischen Leben
einen freimüthigen, feurigen Aufschwung zu geben, und die Gebrechen der
Kirche zu bekämpfen [...]. So haben die zahlreichen Troubadours der Provence
die Gaya Scienza zu einem leidenschaftlichen, freiheitsglühenden, propheti-
schen und dann wieder schwermüthigen, liebedurstigen Gesang erhoben"
(ebd.). Wenn schließlich in JGB 260 die ,vornehme' - von Niklas Luhmann
dann dankbar für einen Buchtitel aufgenommene - „Liebe als Passion" als
eine „Erfindung de[r] provenzalischen Ritter-Dichter[]" gerühmt wird (KSA 5,
212, 18-21; vgl. NK 5/1 hierzu), so lässt sich dies also möglicherweise ebenfalls
schon auf N.s Lektüre von Gsell-Fels zurückführen.
Als weiterer Bezugstext für N.s Kenntnisse über die Trobador-Kultur der
Provence kommt Stendhals Werk De l'amour in Frage, das zwar nicht in N.s
erhaltener Bibliothek vorhanden ist, auf das er aber nachweislich des Öfteren
rekurriert hat (vgl. Brusotti 1997b, 290 f., Anm. 156 u. 296, Anm. 166, ferner
ebd., 427; vgl. auch Piazzesi 2011, 139-142 sowie Campioni 2009c, 49). Um die
Zusendung zweier (nicht näher genannter) Stendhal-Bände bittet N. seine Mut-
ter auf derselben Postkarte vom 27. März 1880, mit der er sich bei ihr Gsell-Fels'
Reiseführer bestellt. Die Gemeinsamkeiten zwischen N.s Äußerungen über die
okzitanische Trobador-Lyrik und den entsprechenden Kapiteln 51 („De l'amour
en Provence jusqu'ä la conquete de Toulouse en 1328 [sic], par les barbares du
Nord") und 52 („La Provence au douzieme siecle") aus Stendhals De l'amour
hat Mancini 1984 (deutsch 2009) detailliert herausgearbeitet (vgl. Mancini
2009, 79-104; zum Stendhal-Bezug vgl. auch Borsche 1994, 195, Anm. 59; Wot-
ling 2007, 11, Anm. 1; Venturelli 2010, 187 f., Anm. 13 u. Campioni 2010b, 32-
34). Stendhal hebt nicht nur auf die sinnlich-erotische Dimension der galanten
Trobador-Lyrik ab, sondern betont - ganz ähnlich wie später N. - auch die
 
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