Stellenkommentar FW Titel, KSA 3, S. 343 83
gut sprachen und Vers und Reim in die Vulgärsprachen einführten. Die Liebes-
höfe der Provence beförderten den Ritterkodex, eine berauschende und feine
Mischung aus christlichem Ideal und heidnischem Epikureertum. Die Troba-
dors waren es, die diesem Kodex Gestalt verliehen. Berühmt gemacht durch
die Dichtung, verbreitete sich die Sprache des Gai saber bald in Europa."
(Deutsche Übersetzung nach Campioni 2010b, 35.) Möglicherweise ist Saint-
Ogan 1885 die direkte Quelle für N.s erste Erwähnung des „gai saber" im selben
Jahr als Pendant zu den synonymen Wendungen „fröhliche Wissenschaft" und
„gaya scienza".
Eine andere mögliche, wenngleich allenfalls nur indirekte Quelle N.s für
die Formel „gai saber" ist das vielbeachtete Werk De la litterature du midi de
l'Europe des Schweizer Historikers und Ökonomen Jean-Charles-Leonard Si-
monde de Sismondi (1773-1842). Im ersten Band dieses 1813 erschienenen
Buchs, in dem er die Trobador-Lyrik der Provence behandelt, schreibt er nicht
nur - wie später Saint-Ogan und N. - „gai saber" statt - wie sonst üblich -
„gay saber", sondern trägt auch ganz ähnliche, allerdings moralisch umge-
kehrt wertende Gedanken über die ,heidnisch' anmutende Lebensbejahung
und Idealisierung der Geschlechtsliebe bei den mittelalterlichen Trobadors vor
wie N. (vgl. u. a. NL 1883, 7[44], KSA 10, 257, 15-17 u. KGW IX 1, N VII 1, 136,
10-20 = NL 1885, 34[90], KSA 11, 449, 26-29; zu Belegstellen bei Sismondi vgl.
ΝΚ KSA 5, 212, 17-23; Andreas Urs Sommer betont dort, dass eine Lektüre von
Sismondis Buch für N. zwar nicht belegt ist, hält allerdings einen über Dritte
vermittelten Einfluss für denkbar). Möglicherweise hat N. sich aber auch in
Karl Bartschs Grundriss zur Geschichte der provenzalischen Literatur über die
Tradition „des gay saber [...], der fröhlichen Wissenschaft" informiert (Bartsch
1872, 74). Dass N. die Titel-Formel aus dem Balzac-Aufsatz Theophile Gautiers
(1811-1872) aufgegriffen hat, wo „les docteurs de la gaie science" genannt
werden (Gautier 1874, 87), ist wiederum nach Häfner 2019, 301, Anm. 29
„nicht unwahrscheinlich".
In einem allgemeineren, von der literaturgeschichtlichen Tradition der ok-
zitanischen Trobador-Lyrik weitgehend abgelösten Sinn konnte N. die Rede von
der „fröhlichen Wissenschaft" auch bei dem von ihm hochgeschätzten Ralph
Waldo Emerson finden, von dem denn auch das Motto zur ersten Ausgabe von
FW stammt. Baumgarten 1956, 97, Anm. 7 vermutet: „Nicht nur dieses Motto,
auch der Titel des Buches stammt vielleicht von Emerson: Emerson nannte sich
,a professor of joyous science [...]"'. Diese Stelle entstammt jedoch einem Text,
den N. wohl nicht gekannt hat, so dass ein anderes Emerson-Zitat als mögliche
Quelle wahrscheinlicher ist, das der Wendung „gaya scienza" auch wörtlich
näher steht. Wie dann Campioni 1987, 216, Anm. 8 gezeigt hat, findet „sich der
Ausdruck ,gay science' in der Abhandlung Poetry and Imagination der Samm-
gut sprachen und Vers und Reim in die Vulgärsprachen einführten. Die Liebes-
höfe der Provence beförderten den Ritterkodex, eine berauschende und feine
Mischung aus christlichem Ideal und heidnischem Epikureertum. Die Troba-
dors waren es, die diesem Kodex Gestalt verliehen. Berühmt gemacht durch
die Dichtung, verbreitete sich die Sprache des Gai saber bald in Europa."
(Deutsche Übersetzung nach Campioni 2010b, 35.) Möglicherweise ist Saint-
Ogan 1885 die direkte Quelle für N.s erste Erwähnung des „gai saber" im selben
Jahr als Pendant zu den synonymen Wendungen „fröhliche Wissenschaft" und
„gaya scienza".
Eine andere mögliche, wenngleich allenfalls nur indirekte Quelle N.s für
die Formel „gai saber" ist das vielbeachtete Werk De la litterature du midi de
l'Europe des Schweizer Historikers und Ökonomen Jean-Charles-Leonard Si-
monde de Sismondi (1773-1842). Im ersten Band dieses 1813 erschienenen
Buchs, in dem er die Trobador-Lyrik der Provence behandelt, schreibt er nicht
nur - wie später Saint-Ogan und N. - „gai saber" statt - wie sonst üblich -
„gay saber", sondern trägt auch ganz ähnliche, allerdings moralisch umge-
kehrt wertende Gedanken über die ,heidnisch' anmutende Lebensbejahung
und Idealisierung der Geschlechtsliebe bei den mittelalterlichen Trobadors vor
wie N. (vgl. u. a. NL 1883, 7[44], KSA 10, 257, 15-17 u. KGW IX 1, N VII 1, 136,
10-20 = NL 1885, 34[90], KSA 11, 449, 26-29; zu Belegstellen bei Sismondi vgl.
ΝΚ KSA 5, 212, 17-23; Andreas Urs Sommer betont dort, dass eine Lektüre von
Sismondis Buch für N. zwar nicht belegt ist, hält allerdings einen über Dritte
vermittelten Einfluss für denkbar). Möglicherweise hat N. sich aber auch in
Karl Bartschs Grundriss zur Geschichte der provenzalischen Literatur über die
Tradition „des gay saber [...], der fröhlichen Wissenschaft" informiert (Bartsch
1872, 74). Dass N. die Titel-Formel aus dem Balzac-Aufsatz Theophile Gautiers
(1811-1872) aufgegriffen hat, wo „les docteurs de la gaie science" genannt
werden (Gautier 1874, 87), ist wiederum nach Häfner 2019, 301, Anm. 29
„nicht unwahrscheinlich".
In einem allgemeineren, von der literaturgeschichtlichen Tradition der ok-
zitanischen Trobador-Lyrik weitgehend abgelösten Sinn konnte N. die Rede von
der „fröhlichen Wissenschaft" auch bei dem von ihm hochgeschätzten Ralph
Waldo Emerson finden, von dem denn auch das Motto zur ersten Ausgabe von
FW stammt. Baumgarten 1956, 97, Anm. 7 vermutet: „Nicht nur dieses Motto,
auch der Titel des Buches stammt vielleicht von Emerson: Emerson nannte sich
,a professor of joyous science [...]"'. Diese Stelle entstammt jedoch einem Text,
den N. wohl nicht gekannt hat, so dass ein anderes Emerson-Zitat als mögliche
Quelle wahrscheinlicher ist, das der Wendung „gaya scienza" auch wörtlich
näher steht. Wie dann Campioni 1987, 216, Anm. 8 gezeigt hat, findet „sich der
Ausdruck ,gay science' in der Abhandlung Poetry and Imagination der Samm-