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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0111
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88 Die fröhliche Wissenschaft

rung [...] nicht ohne Bedeutung" ist, da hierdurch erst „der Text zu einem Hin-
weis auf jene Identität von Dichter und Weisem [wird], auf die es Nietzsche in
der Fröhlichen Wissenschaft ankommt." Allerdings ist die Frage, weshalb N.
den „Heiligen" aus dem ersten FW-Motto ausschließt, nicht ganz so leicht zu
beantworten. Wenn Brusotti ebd. schreibt: „Die Gestalt des Heiligen fällt aus
naheliegenden Gründen einfach weg", so impliziert dies wohl einen Hinweis
auf die Moral- und Religionskritik bei N., die den Wegfall bedinge. Tatsächlich
ließe sich hierfür etwa auf die titelgebende „Kritik der Heiligen" in
FW 150 verweisen. Doch N. kennt, wie beispielsweise an FW 73 deutlich wird,
auch ein alternatives, positiver besetztes Konzept des Heiligen. In dem affirma-
tiven Nachlass-Exzerpt NL 1882, 18[5] kommt der „Heilige" schließlich auch
vor, und was Emerson über ihn (wie über den „Poeten" und den „Philoso-
phen") sage, sei „mir nach dem Herzen", heißt es dort.
Die Trias ,Poet, Philosoph, Heiliger', die N. bei Emerson vorfand, war ihm
freilich schon durch Schopenhauer bekannt, bei dem ebenfalls die Typen des
Künstlers, des Philosophen und des Heiligen bzw. Asketen drei ausgezeichnete
Formen menschlicher Existenz bilden. Im Rahmen seiner Beschäftigung mit
Schopenhauer kommt diese Dreieinheit denn auch bereits in N.s Frühwerk
mehrfach vor, so etwa in UB III, SE 5, KSA 1, 380, 15-28, wo es heißt: „Das
sind jene wahrhaften Menschen, jene Nicht-mehr-Thiere, die Phi-
losophen, Künstler und Heiligen; bei ihrem Erscheinen und durch ihr
Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar
einen Freudesprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male am Ziele, dort näm-
lich, wo sie begreift, dass sie verlernen müsse, Ziele zu haben und dass sie das
Spiel des Lebens und Werdens zu hoch gespielt habe. Sie verklärt sich bei
dieser Erkenntniss, und eine milde Abendmüdigkeit, das, was die Menschen
,die Schönheit' nennen, ruht auf ihrem Gesichte. Was sie jetzt, mit diesen ver-
klärten Mienen ausspricht, das ist die grosse Aufklärung über das Dasein;
und der höchste Wunsch, den Sterbliche wünschen können, ist, andauernd
und offnen Ohr's an dieser Aufklärung theilzunehmen." Weitere Stellen aus
N.s Nachlass, in denen von allen drei Typen auf einmal die Rede ist: NL 1873,
29[17], KSA 7, 633, 5; NL 1875, 3[63], KSA 8, 32, 7f.; NL 1883, 16[11], KSA 10,
501, 29-31; NL 1883, 16[14], KSA 10, 502 f. Einen späteren Reflex auf das Motto-
Zitat der ersten Ausgabe von FW gibt Za II Das Grablied, KSA 4, 143, 30 f.:
,„Alle Tage sollen mir heilig sein' - so redete einst die Weisheit meiner Jugend:
wahrlich, einer fröhlichen Weisheit Rede!"
Zu dem emersonianischen Motto, das in der Sekundärliteratur bisweilen
auf den Beginn des Vierten Buchs (FW 276) bezogen wird, vgl. auch Franco
2011, 142 f., Zavatta 2019, 62 f. und Saarinen 2019, 139-142. Im selben Wortlaut
wie in der Druckfassung, nur ohne Anführungszeichen, dafür aber mit Komma
 
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