90 Die fröhliche Wissenschaft
Das selbstverfasste Motto-Gedicht ersetzt schließlich in der 1887 erschiene-
nen Neuausgabe von FW das - modifizierte - Emerson-Zitat, das als Motto der
Erstausgabe von 1882 gedient hatte. Zugleich lässt sich das Gedicht aber auch
als versteckte Anspielung auf jenes Emerson-Zitat lesen, was freilich Kenntnis-
se voraussetzt, die bei zeitgenössischen Lesern, die lediglich die neue Ausgabe
vor sich hatten, nicht gleichermaßen vorauszusetzen waren: nämlich einerseits
eben die Kenntnis des Mottos der ersten Ausgabe (über die zumindest einige
Leser in der Tat verfügen konnten) und andererseits die Kenntnis des folgen-
den Nachlass-Notats N.s aus dem Herbst 1881: „Emerson / Ich habe mich nie
in einem Buch [den Versuchen?) so zu Hause und in meinem Hause gefühlt
als - ich darf es nicht loben, es steht mir zu nahe." (NL 1881, 12[68], KSA 9,
588, 6 f.; Handschrift in N V 7, 170.) Stegmaier 2012b, 59 f., der das lyrische Ich
kurzerhand mit dem empirischen Autor N. gleichsetzt, deutet das Motto-Ge-
dicht zur neuen Ausgabe vor diesem Hintergrund etwas verwickelt als eine
„kleine ,fröhliche' Hanswurstiade: In seinem Haus wohnt Emerson, den er [N.]
doch nicht nachgemacht haben will [...], und er könnte ihn gerade darin nicht
nachgemacht haben, dass er, anders als der ernste Emerson, über sich selbst
lachen kann - und gerade über dieses Motto."
In dem möglicherweise darin versteckten Emerson-Bezug gehen die Motto-
verse jedoch nicht auf. Andere Anspielungen und Traditionsanleihen sind we-
niger versteckt. Der Eingangsvers „Ich wohne in meinem eigenen Haus" spielt
vor dem Hintergrund der ,Unterschrift' „Ueber meiner Hausthür" auf traditio-
nelle Haus- bzw. Spruchinschriften an, wie sie im deutschsprachigen Raum seit
dem späten Mittelalter bekannt und verbreitet sind (vgl. Widera 1990). Bei N.s
Motto-Gedicht handelt es sich insbesondere um eine Kontrafaktur religiöser
Spruchinschriften seit dem frühen 18. Jahrhundert, die mit der Verszeile begin-
nen „Dies Haus ist mein und doch nicht mein" und das Motiv der peregrinatio
vitae, der Pilgerschaft auf Erden, in vielerlei Ausformungen variieren (hierzu
siehe Tebbe 2008, 76-80). Geht es hierbei stets um eine christliche Haltung
der Demut, die aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit des irdischen Lebens
und Besitzes erwachsen soll, so proklamiert das lyrische Ich zu Beginn des
Mottos eine souveräne Autarkie als Autor des „eigenen", d. h. selbst errichteten
,Denkgebäudes' (zu N.s „architektonischen Metaphern" vgl. Sommer 2015b,
26), die ideengeschichtlich auf die autonomistische Genieästhetik des 18. Jahr-
hunderts zurückweist. Auch der junge Goethe bedient sich des Bildes der eige-
nen Wohnstätte, wenn er Prometheus in der gleichnamigen, N. wohlbekannten
Sturm-und-Drang-Hymne gegenüber dem olympischen Göttervater Zeus nach-
drücklich darauf insistieren lässt, dass dieser ihm „meine Hütte, die du nicht
gebaut" (Goethe 1853-1858, 2, 62) doch stehenlassen müsse (vgl. dagegen aller-
dings die Ablehnung jeglichen Immobilieneigentums in FW 240). Aurnhammer
Das selbstverfasste Motto-Gedicht ersetzt schließlich in der 1887 erschiene-
nen Neuausgabe von FW das - modifizierte - Emerson-Zitat, das als Motto der
Erstausgabe von 1882 gedient hatte. Zugleich lässt sich das Gedicht aber auch
als versteckte Anspielung auf jenes Emerson-Zitat lesen, was freilich Kenntnis-
se voraussetzt, die bei zeitgenössischen Lesern, die lediglich die neue Ausgabe
vor sich hatten, nicht gleichermaßen vorauszusetzen waren: nämlich einerseits
eben die Kenntnis des Mottos der ersten Ausgabe (über die zumindest einige
Leser in der Tat verfügen konnten) und andererseits die Kenntnis des folgen-
den Nachlass-Notats N.s aus dem Herbst 1881: „Emerson / Ich habe mich nie
in einem Buch [den Versuchen?) so zu Hause und in meinem Hause gefühlt
als - ich darf es nicht loben, es steht mir zu nahe." (NL 1881, 12[68], KSA 9,
588, 6 f.; Handschrift in N V 7, 170.) Stegmaier 2012b, 59 f., der das lyrische Ich
kurzerhand mit dem empirischen Autor N. gleichsetzt, deutet das Motto-Ge-
dicht zur neuen Ausgabe vor diesem Hintergrund etwas verwickelt als eine
„kleine ,fröhliche' Hanswurstiade: In seinem Haus wohnt Emerson, den er [N.]
doch nicht nachgemacht haben will [...], und er könnte ihn gerade darin nicht
nachgemacht haben, dass er, anders als der ernste Emerson, über sich selbst
lachen kann - und gerade über dieses Motto."
In dem möglicherweise darin versteckten Emerson-Bezug gehen die Motto-
verse jedoch nicht auf. Andere Anspielungen und Traditionsanleihen sind we-
niger versteckt. Der Eingangsvers „Ich wohne in meinem eigenen Haus" spielt
vor dem Hintergrund der ,Unterschrift' „Ueber meiner Hausthür" auf traditio-
nelle Haus- bzw. Spruchinschriften an, wie sie im deutschsprachigen Raum seit
dem späten Mittelalter bekannt und verbreitet sind (vgl. Widera 1990). Bei N.s
Motto-Gedicht handelt es sich insbesondere um eine Kontrafaktur religiöser
Spruchinschriften seit dem frühen 18. Jahrhundert, die mit der Verszeile begin-
nen „Dies Haus ist mein und doch nicht mein" und das Motiv der peregrinatio
vitae, der Pilgerschaft auf Erden, in vielerlei Ausformungen variieren (hierzu
siehe Tebbe 2008, 76-80). Geht es hierbei stets um eine christliche Haltung
der Demut, die aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit des irdischen Lebens
und Besitzes erwachsen soll, so proklamiert das lyrische Ich zu Beginn des
Mottos eine souveräne Autarkie als Autor des „eigenen", d. h. selbst errichteten
,Denkgebäudes' (zu N.s „architektonischen Metaphern" vgl. Sommer 2015b,
26), die ideengeschichtlich auf die autonomistische Genieästhetik des 18. Jahr-
hunderts zurückweist. Auch der junge Goethe bedient sich des Bildes der eige-
nen Wohnstätte, wenn er Prometheus in der gleichnamigen, N. wohlbekannten
Sturm-und-Drang-Hymne gegenüber dem olympischen Göttervater Zeus nach-
drücklich darauf insistieren lässt, dass dieser ihm „meine Hütte, die du nicht
gebaut" (Goethe 1853-1858, 2, 62) doch stehenlassen müsse (vgl. dagegen aller-
dings die Ablehnung jeglichen Immobilieneigentums in FW 240). Aurnhammer