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Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Walter de Gruyter GmbH & Co. KG [Mitarb.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,2, 1. Teilband): Kommentar zu Nietzsches "Die fröhliche Wissenschaft" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.73066#0274
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Stellenkommentar FW 1, KSA 3, S. 369 251

von FW 1 ist zwar, abgesehen vom Titel, der zunächst offenlässt, wer die Da-
seinszweck-Lehrer sind und worin ihre Lehre besteht, von einem „Zweck" nicht
explizit die Rede, wohl aber von „Einer Aufgabe", hinter der man jenen, von
Schneider ebenso wie schon von Schopenhauer akzentuierten Zweck - der Art-
erhaltung - vermuten könnte. Damit schiene es sogar naheliegend anzuneh-
men, das in diesem Abschnitt sprechende Ich sei selbst einer der Zwecklehrer,
die im Titel genannt werden (Benne 2016b, 109 will sogar „mehrere Stimmen"
solcher Zwecklehrer in FW 1 „unterscheiden").
Verhielte es sich tatsächlich so, so würde FW 1 jedenfalls einigen (nachge-
lassenen) Texten N.s aus den frühen 1880er Jahren widersprechen, die gegen
die unter anderem von Schopenhauer und Schneider vertretene These argu-
mentieren, in der Erhaltung der Gattung bzw. der Art bestehe der Zweck des
menschlichen Daseins. So notiert N. in NL 1881, 11[16], KSA 9, 447, 5-28: „An-
gebliche Zweckmäßigkeit der Natur - bei der Selbstsucht, dem Geschlechts-
trieb, wo man sagt, sie benutze das Individuum, bei der Lichtausströmung der
Sonne usw. - alles Erdichtungen! Es ist vielleicht die letzte Form einer Gottes-
Vorstellung - aber dieser Gott ist nicht sehr klug und sehr unbarmherzig. Leo-
pardi hat die böse Stiefmutter Natur, Schopenhauer den ,Willen'. - Vielleicht
kann man mit solchen anscheinenden Zweckthätigkeiten die Zweckthätigkeit
des Menschen aufhellen. Es wird etwas erreicht, und das was erreicht wird und
das was dazu alles geschieht, ist von dem Bilde, welches vorher im Kopfe des
Wollenden ist, total verschieden - es führt keine Brücke hinüber. [...] Un-
sere Handlungen sind Versuche, ob dieser oder jener Trieb daran seine
Freude habe, bis in's Verwickelste hinein, spielende Äußerungen des Dranges
nach Thätigkeit, welche wir durch die Theorie der Zwecke mißdeuten und
falsch verstehen. Wir bewegen unsere Fangarme - und dieser oder jener Trieb
findet in dem, was wir fangen, seine Beute und macht uns glauben, wir hätten
beabsichtigt, ihn zu befriedigen." Vgl. auch die Aufzeichnung NL 1883,
7[238], KSA 10, 315, 12-18, die explizit auf die Arterhaltung zurückkommt:
„Grundirrthum bisher: ,alle Handlungen des Menschen sind zweckbe-
wußt.' / ,der Zweck des Menschen ist die Arterhaltung und nur inso-
fern auch die Erhaltung seiner Person' - jetzige Theorie. / So steht es auch
bei sehr individuellen Menschen wir sorgen für unsere zukünftigen Be-
dürfnisse!"
Dass die Arterhaltung ein oder der - und sei es unbewusste - Zweck des
Menschen ist, wird indes auch in FW 1 nicht behauptet, wenngleich jene als
die „Eine[] Aufgabe" eingeführt wird, mit der alle Menschen, gute und böse,
fortwährend beschäftigt sind. Die Sprechinstanz von FW 1 gehört also keines-
wegs zu den Daseinszweck-Lehrern, gegen die sie im Textverlauf vielmehr ar-
gumentiert. Wie im Fortgang des Abschnitts deutlich wird, besteht die Pointe
 
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